Pipers Welt:Vor dem Giftschrank

Pipers Welt: An dieser Stelle schreibt jeden zweiten Freitag Nikolaus Piper. Illustration: Bernd Schifferdecker

An dieser Stelle schreibt jeden zweiten Freitag Nikolaus Piper. Illustration: Bernd Schifferdecker

Wegen der Wirtschaftskrise will der Bürgermeister von New York Schulden aufnehmen. Genau so begann der Niedergang der Stadt in den 1970ern. Wiederholt sich Geschichte?

Von Nikolaus Piper

Wenn man nicht auf den Text achtet, hört sich Billy Joels Song "Miami 2017" an wie eine Hymne auf die Stadt New York. Tatsächlich ist das Lied eine apokalyptische Vision - die New Yorker zerstören ihre unregierbar gewordene Stadt, die Lichter am Broadway erlöschen, das Empire State Building wird plattgemacht, und wer kann, zieht ins lebensfreundlichere Miami (daher der Name).

Für den in New York geborenen Billy Joel gab es einen sehr konkreten Anlass, das Lied mit dem düsteren Text zu schreiben. Ein gutes halbes Jahr, ehe die Platte "Turnstiles" mit "Miami 2017" in die Läden kam, im Oktober 1975, stand die Stadt New York am Rande des Bankrotts. Die Finanzen der heruntergekommenen Metropole waren so marode, dass New York bei keiner Bank auf der Welt mehr Kredit hatte. Hilfen aus Washington lehnte der damalige Präsident Gerald Ford ab, was die Tageszeitung Daily News zu der berühmten Schlagzeile veranlasste: "Ford to City: Drop Dead". Schließlich, am 17. Oktober um 14:07 Uhr, zwei Stunden vor Ablauf einer Gnadenfrist der Banken, stimmte die Lehrergewerkschaft des Bundesstaates zu, dass ihr Pensionsfonds der Stadt ein Darlehen gab. Damit war der Bann gebrochen. Kurze Zeit danach wurde der Slogan "I love NY" geboren (der mit dem Herzchen). Die Ereignisse von damals aber blieben bis heute ein Trauma für die Stadt.

Umso schockierender ist die Aussicht, dass sich jetzt alles wiederholen könnte. Wegen den Folgen der Pandemie fehlen im Stadthaushalt akut 8,5 Milliarden Dollar, weshalb der Bürgermeister, Bill de Blasio, den Bundesstaat New York um Genehmigung ersucht, Kredite von bis zu sieben Milliarden Dollar aufzunehmen, um die laufenden Ausgaben der Stadt zu finanzieren. Genau das war die Ursache der Finanzkatastrophe in den Siebzigerjahren: Die Stadt brachte Einnahmen und Ausgaben nicht zusammen und musste sich verschulden, nur um zum Beispiel die Gehälter von Lehrern und Polizisten bezahlen zu können. Der Schuldendienst wurde immer teurer, und irgendwann bekamen die Gläubiger Angst um ihr Geld.

Dass der Bürgermeister trotz dieser Vorgeschichte den Giftschrank mit den unseriösen Finanzinstrumenten geöffnet hat, lässt ahnen, wie verzweifelt die Lage der Stadt durch Corona geworden ist. Wochenlang war New York das Epizentrum der Pandemie. 900 000 Menschen haben bis Ende Mai ihren Arbeitsplatz verloren, der Immobilienmarkt stagniert, Touristen gibt es keine mehr, in der Folge brechen die Einnahmen aus der Umsatz- und der Grundsteuer weg, den wichtigsten Finanzquellen der Stadt.

Ist New York wegen Corona dazu verdammt, in die alte Falle zu laufen? Die Frage stellt man am besten Richard Ravitch. Er war es, der 1975 als Chef der Staatlichen Entwicklungskommission New York rettete, indem er die Lehrergewerkschaft ins Boot holte. Heute ist Ravitch, mittlerweile 86 Jahre alt, immer noch im öffentlichen Leben der Stadt aktiv. "Hinter den Zahlen der Stadtverwaltung steckt Wunschdenken", sagt Ravitch. "Ich kann es zwar nicht beweisen, aber der Fehlbetrag dürfte viel höher ausfallen als 8,5 Milliarden." Vor allem die Metropolitan Transportation Authority (MTA), die die New Yorker U-Bahn betreibt, ist chronisch unterfinanziert. Wenn schon in normalen Zeiten das Geld fehlt, bedeutet Social Distancing mit halbleeren U-Bahnen eine Katastrophe für die MTA.

New York muss auf Hilfen der Regierung in Washington hoffen

Hinter all dem steht ein finanzpolitisches Grundproblem. "Bei uns in Amerika sagt man: Die Bundesregierung in Washington hat das Geld, die Bundesstaaten haben die Macht, die Städte die Probleme." Will sagen: Wenn die Probleme richtig schlimm werden, wie zurzeit, geht den Städten das Geld aus und sie müssen um Hilfe betteln. Auch Deutschland kennt das Problem der verarmten Städte, in Amerika ist aber alles viel dramatischer, unter anderem wegen der extremen Unterschiede zwischen reich und arm und wegen der Spaltung des Landes in verfeindete Lager.

In diesem Zusammenhang ist eine alte Geschichte interessant. Als die Stadt gerade der Pleite entronnen war, wollte ein New Yorker Unternehmer das heruntergekommene Commodore Hotel in der Mitte Manhattans kaufen und renovieren. Weil ihm das Geld fehlte, verlangte der Mann - er hieß Donald Trump - eine Steuerbefreiung über 40 Jahre. Richard Ravitch jedoch lehnte es als Leiter der Entwicklungskommission ab, privaten Investoren etwas zu schenken und verweigerte sein Okay. Das erboste Trump so sehr, dass er noch 2009 den damaligen Gouverneur von New York davor warnte, Ravitch, diesem "schwachen und ineffektiven" Mann, einen Job zu geben. Die Attacken hätten seine Reputation bei seinen Enkeln enorm gesteigert, sagt Ravitch heute.

Aus Sicht New Yorks liegt das Problem darin, es mit einem Präsidenten zu tun zu haben, der ein eher instrumentelles Verhältnis zu Kommunalfinanzen hat. Konkret: Das Repräsentantenhaus mit seiner demokratischen Mehrheit hat ein Drei-Billionen-Dollar-Gesetz beschlossen, das umfangreiche Hilfen für Bundesstaaten und Gemeinden vorsieht. Der Senat, in dem die Republikaner als Partei des Präsidenten die Mehrheit haben, wird das Gesetz vermutlich Ende Juni ablehnen.

Sollte dieser Fall eintreten, dann würde der Stadt vermutlich gar nichts anderes übrig bleiben, als den Giftschrank zu öffnen. Das sagt selbst Richard Ravitch: "In einer extremen finanziellen Notsituation ist es ausnahmsweise erlaubt, auch laufende Ausgaben mit Krediten zu finanzieren." Ein Griff in den Giftschrank bleibt es trotzdem. Irgendetwas muss geschehen, um den Niedergang der Stadt zu stoppen. Ein neuer Präsident im November wäre ein erster Schritt.

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