Pipers Welt:Politische Börsen

Brexit, Terror in Frankreich, Putsch in der Türkei: Die Welt gerät gerade aus den Fugen, immer mehr Bürger versinken in Angst und Furcht - und gleichzeitig feiern die Börsen einen Rekord nach dem anderen: Das passt doch nicht zusammen!

Von Nikolaus Piper

Terror in Frankreich, Terror in Deutschland, Ausnahmezustand in der Türkei, Donald Trump nominiert, Brexit: Die Nachrichten dieses Sommers machen Angst, es fühlt sich an, als breche die gewohnte Ordnung der Welt zusammen. Und was machen die Aktienmärkte? Sie jubeln: Dax und Dow Jones an der Nähe ihrer jeweiligen Rekordhochs, der kurze Schock nach dem Brexit ist längst verkraftet. Verrückt, oder?

Es kommt darauf an, was man unter "verrückt" versteht. Zu dem Thema gibt es viele kluge und weniger kluge Börsenregeln. "Politische Börsen haben kurze Beine", heißt es zum Beispiel. Will sagen: Politische Ereignisse, der Brexit oder eine Wahl in Amerika, können vielleicht einen kurzen Schock auslösen, beständig ist das nicht. Entscheidend für die Kurse ist letztlich die Ökonomie: Gewinne, Mario Draghi, die Menge des Kapitals, das überhaupt Anlage sucht. Politisch begründete Ausschläge reduzieren sich in der Rückschau fast immer zu bedeutungslosem Hintergrundrauschen. Dem großen Börsianer Nathan Rothschild wird die Regel zugeschrieben: "Kaufe beim Klang der Kanonen, verkaufe beim Klang der Trompeten". Das ist nichts anderes als der Ratschlag, sich politische Börsen zunutze zu machen: Wenn etwas passiert, geraten alle in Panik, der richtige Zeitpunkt also, um einzusteigen. Wenn das Problem gelöst ist und (in Rothschilds Fall) England den Krieg gegen Napoleon gewonnen hat, geraten alle in Euphorie, und es ist Zeit auszusteigen.

Für viele Gutwillige belegen Weisheiten wie die Rothschilds, dass Spekulanten sich am Elend der Menschen bereichern. Aber das ist ein Missverständnis. Es nutzt der Gesellschaft, wenn Unternehmen (oder auch Staatsanleihen) regelmäßig bewertet werden, auch in Krisenzeiten. Gut regulierte Börsen sind das beste bisher bekannte Verfahren dazu. Aber dieses Verfahren ist bei weitem nicht perfekt. Börsianer verdienen ihr Geld nicht mit dem Elend anderer, aber sie können irren, und zwar systematisch.

Pipers Welt: Nikolaus Piper bewundert die Italiener, die trotz ihres dysfunktionalen Staates erfolgreich wirtschaften.

Nikolaus Piper bewundert die Italiener, die trotz ihres dysfunktionalen Staates erfolgreich wirtschaften.

Um die Börse zu verstehen, ist es immer wieder gut, beim Altmeister John Maynard Keynes nachzuschauen. Der Ökonom, der auch ein überaus erfolgreicher Spekulant war, verglich die Börse mit einem Schönheitswettbewerb, wie ihn Zeitungen früher ausschrieben: Das Ziel ist, die sechs hübschesten Mädchen aus 100 Fotos auszusuchen, und zwar nicht die, die der (männliche) Leser selbst am hübschesten findet, sondern jene, die die Mehrheit der anderen am besten gefällt. Übertragen auf die heutige Börse kommt es für den einzelnen Spekulanten nicht darauf an, ob er glaubt, dass der Brexit der deutschen Wirtschaft schadet, sondern ob er glaubt, dass die anderen glauben, dass es so ist. Es kann daher für ihn rational sein, Kauf- oder Verkaufsentscheidungen zu treffen, die er fundamental für falsch hält, nur weil er glaubt, die anderen halten sie für richtig. Dieses systematische Problem mündet dann in die, ebenfalls Keynes zugeschriebene, Erkenntnis: "Der Markt kann länger verrückt spielen, als du zahlungsfähig bist."

Womit eine Teilantwort auf die Eingangsfrage gestellt wäre. Sicher ist, dass in Zeiten wie diesen die Ausschläge weitergehen werden. Wichtigster Kurstreiber ist jedoch das billige Geld, das EZB, Federal Reserve und andere den Märkten zur Verfügung stellen. Manche glauben, dass Draghi & Co. bereits eine Spekulationsblase produziert haben. Aber der Glaube ist offenbar so wenig verbreitet, dass die Kurse Schocks wie den Brexit ohne Probleme ausgehalten haben. Der Rest ist Hintergrundrauschen, jedenfalls bis jetzt.

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...Punkte betrug der Anstieg des Dow-Jones-Index am 21. März 2003, nachdem die USA und eine "Koalition der Willigen" Irak angegriffen hatten. Das entsprach einer Wertsteigerung von immerhin 2,8 Prozent an einem Tag. Die Aktienkurse machten damit den Rückgang wett, den die wochenlange politische Unsicherheit vor Ausbruch des Krieges ausgelöst hatte.

An dieser Stelle schreiben jeden Freitag Franziska Augstein und Nikolaus Piper im Wechsel.

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