Süddeutsche Zeitung

Pipers Welt:Minsky-Moment

Wenn ganze Volkswirtschaften stillgelegt werden, sind Kurseinbrüche unvermeidbar. Wie rational geht es an den Märkten zu? Antworten gibt ein kaum bekannter Ökonom.

Von Nikolaus Piper

Fast alles, was gerade in Deutschland und der Welt passiert, konnte man sich noch vor sehr kurzer Zeit nicht einmal im Traum vorstellen. Das gilt auch und besonders für die Finanzmärkte. Weniger als zwei Monate ist es her, dass der Deutsche Aktienindex nach gut elf Jahren Aufschwung am 22. Januar 2020 mit 13 789 Punkten sein Allzeithoch erreicht hatte. Seither verlor der Index wegen Corona mehr als ein Drittel seines Wertes. Das ist einerseits nicht erstaunlich. Wenn auf einen Schlag rund um den Globus ganze Volkswirtschaften, einschließlich der deutschen, tiefgefroren werden, muss dies dramatische Folgen für den Wert der Unternehmen haben. Wenn man zum Beispiel auf absehbare Zeit nicht mehr reisen kann, ist es kein Wunder, dass sich der Kurs der Lufthansa-Aktie seit Jahresbeginn halbiert hat.

Soweit ist das Geschehen an den Börsen in Sachen Corona durchaus rational. Weniger rational und deshalb beunruhigend ist die Art, wie dieser Absturz vor sich ging. Er bestand und besteht aus einer Reihe wilder Auf- und Ab-Bewegungen der Kurse, die in der Geschichte ohne Beispiel sind. Die Finanzmärkte geraten in Panik, schöpfen Hoffnung, wenn Regierungen, die amerikanische Fed oder die Europäische Zentralbank, etwas beschlossen haben. Und sie verlieren diese Hoffnung ebenso schnell wieder. Deshalb sieht der Verlauf des Dow Jones in New York auch wie eine Fieberkurve aus. Am Montag dieser Woche erlebte der Index mit einem Minus von 12,93 Prozent den zweitschlechtesten Tag seiner Geschichte, schlimmer noch als bei Ausbruch der Weltwirtschaftskrise am 29. Oktober 1929. Nur der Crash am 19. Oktober 1987 war heftiger. Die Corona-Krise erbrachte aber auch den zehntbesten Tag der Dow-Geschichte - am Freitag voriger Woche mit einem Plus von 9,36 Prozent,

Das wilde Spiel der Märkte zeigt, dass man sich in dieser Krise wieder mit Hyman Minsky (1919-1996) beschäftigen muss. Der amerikanische Ökonom gehörte zu den großen Außenseitern der Zunft. Einer breiteren Öffentlichkeit ist er bis heute weitgehend unbekannt geblieben. Geboren in Chicago als Sohn sozialdemokratischer Emigranten aus Weißrussland, studierte er unter anderem bei dem österreichischen Exzentriker Joseph Schumpeter, der am Ende seines Lebens in Harvard lehrte. Minsky hegte tiefe Zweifel an der Rationalität der Finanzmärkte und lehnte deren Deregulierung kategorisch ab. Lange interessierte sich kaum jemand für ihn, doch in der Finanzkrise von 2008/2009 wurde er von vielen Ökonomen neu entdeckt.

Minskys Lehre lässt sich in einem einzigen Satz zusammenfassen: "Stabilität gebiert Instabilität", was bedeutet, dass lange Zeiten des stetigen Aufschwungs an den Finanzmärkten - so wie in den vergangenen elf Jahren - dazu führen, dass nicht nur der Wert der Vermögen immer weiter steigt, sondern dass die Anleger auch immer wagemutiger (vulgo: leichtsinniger) werden. Sie schließen Geschäfte auf Kredit ab, bei denen der Gewinn nur dann für Zins und Tilgung reicht, wenn die Kurse immer weiter steigen. Minsky nannte solche Geschäfte "Ponzi-Finanzierungen" - nach Charles Ponzi, einem Betrüger aus Boston, der in den 1920er-Jahren mit einem hinterhältigen Schneeballsystem viel Geld ergaunert hatte und dafür sieben Jahre ins Gefängnis musste. Man kann den Zusammenhang auch so erklären: Die Finanzmärkte glauben in guten Zeiten, Geld sei immer im Überfluss vorhanden. Sie bewerten daher Risiken viel zu niedrig.

Passiert allerdings etwas Unvorhergesehenes, wie jetzt der zerstörerische Preiskrieg zwischen den Ölmächten Russland und Saudi-Arabien und dazu die Coronakrise, dann gerät das ganze System aus dem Gleichgewicht, dann werden immer mehr Geschäfte zu Ponzi-Finanzierungen, dann wird flüssiges Geld knapp. Die Folgen konnte man in den vergangenen Tagen sehr gut beobachten, als plötzlich die Kurse von sicheren Anlagen fielen, die normalerweise in Krisenzeiten als sichere Häfen dienen; deutsche und amerikanische Bundesanleihen etwa oder Gold. Die Erklärung für diese Anomalie ist einfach: Viele Leute müssen sichere Anlagen liquidieren, um an Geld zu kommen, mit dem sie ihre Verbindlichkeiten begleichen können. Für diesen plötzlichen Ausbruch von Instabilität hat sich während der Finanzkrise der Begriff "Minsky-Moment" eingebürgert. Auch der damaligen Krise war eine lange, nur unzureichend erklärte Hausse vorhergegangen. Der Minsky-Moment kam im August 2007, als die Investmentbank Bear Stearns mit Staatshilfe gerettet werden musste. Wann genau der Minsky-Moment in der jetzigen Krise war, darüber lässt sich streiten. Ein guter Kandidat für das Datum wäre der 9. März, an dem der Dow Jones erstmals mehr als 2000 Punkte verloren hatte. Auch dass die Ausschläge heute stärker ausfallen als früher, lässt sich erklären. Zu Minskys Zeiten bestand das Handwerkszeug eines Börsianers aus Bleistift, Block und Telefon. Heute sind es leistungsfähige Rechner, die von Algorithmen getrieben werden. So ein Algorithmus kann zum Beispiel den Befehl geben, besonders volatile Aktien zu verkaufen, Papiere also, deren Kurse extrem schwanken. Sie verstärken automatisch die ohnehin vorhandene Instabilität. Nach der Finanzkrise hatte vor allem die Regierung Obama ihre Lehren gezogen und die Banken neu und effizient reguliert. Für Schlüsse aus der jetzigen Krise ist es noch viel zu früh. Außer vielleicht für den: Wenn alles vorbei ist, wenn es einen Impfstoff für Corona gibt und sich die Wirtschaft normalisiert, wird es irgendwann eine neue Hausse geben. Dann wäre es gut, vorsichtiger zu sein - und zwar schon ehe der Minsky-Moment eintritt. Aber genau das werden die Finanzmärkte nicht tun, hätte Minsky gesagt.

Weil sie eben so sind, wie sie sind.

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SZ vom 20.03.2020
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