Süddeutsche Zeitung

Pipers Welt:Meinen und wissen

In der Redaktion des "Wall Street Journal" ist der alte Konflikt zwischen Nachrichten und Meinungsteil ausgebrochen. Es lässt sich einiges lernen.

Von Nikolaus Piper

Was immer man über das Wall Street Journal denken mag, eine Leistung kann der Zeitung niemand absprechen: Sie ist fast seit ihrer Gründung vor 131 Jahren das Symbol schlechthin für den amerikanischen Kapitalismus und dessen Versprechen. Nirgends wird das schöner dargestellt als in Billy Wilders Komödie "Manche mögen's heiß" von 1959. Joe (Tony Curtis), ein mittelloser Musiker auf der Flucht vor der Mafia, will in einem Hotel in Florida die ebenfalls mittellose Sängerin Sugar Kane (Marilyn Monroe) dadurch für sich gewinnen, dass er sich als reicher Erbe ausgibt. Zu diesem Zweck setzt er eine fremde Brille ein, einen Strandkorb - und eben ein herrenloses Wall Street Journal, dessen Börsenkolumnen er scheinbar liest. Am Ende geht alles gut aus, auch wenn, oder gerade weil, Joe und Sugar Kane beide arm sind wie Kirchenmäuse.

Hätten Joe und Sugar Kane wirklich gelebt und wären zudem in die Gegenwart gebeamt worden, dann hätten sie die Nachrichten kaum fassen können, die in diesen Tagen über das Wall Street Journal öffentlich geworden sind. Zwischen der für Nachricht und Analyse zuständigen Redaktion des Journal und deren sehr konservativen Meinungsteil herrscht offener Krieg. Im Juli hatten 300 Redakteure einen langen Brief an den Herausgeber der Zeitung, Almar Latour geschrieben, in dem sie die Kollegen der Meinungsseite beschuldigten, Fakten nicht zu überprüfen und intransparent zu sein. Auslöser des Protestbrief, den die New York Times veröffentlichte, war ein Meinungsbeitrag von Vizepräsident Mike Pence vom 16. Juni, in dem dieser behauptete, in den USA gebe es gar keine zweite Welle der Corona-Pandemie. Das war schlicht falsch; die korrekten Zahlen über das Ausmaß der zweiten Welle hatten Reporter des Journal schon eine Woche zuvor aufgeschrieben. "Meinungsstücke", so der Brief wörtlich, "stellen oft Behauptungen auf, die der Berichterstattung des WSJ widersprechen." Als Lösung empfahlen die Autoren des Protestbriefes, die Bruchlinien für die Leser transparent zu machen. Auf der Website wsj.com würde zum Beispiel unter allen Meinungsartikeln der Hinweis stehen: "Die Meinungsseiten des Wall Street Journal sind unabhängig von der Nachrichtenredaktion".

Die Meinungsredaktion schlug zwei Tage später zurück. Sie setzte sich nicht mit den Vorwürfen des Briefes auseinander, sondern veröffentlichte einen "Brief an die Leser", in dem sie unter anderem giftete: "Es war wahrscheinlich unvermeidbar, dass die Welle der progressiven Cancel Culture auch im Journal ankommt ... Aber wir sind nicht die New York Times". Sprich: Wir ändern nichts.

Nun gibt es den Graben zwischen den Meinungsseiten und dem Rest der Zeitung schon immer. Der Nachrichtenteil steht für professionelle Wirtschaftsberichterstattung, für zuweilen ermüdend lange Analysen und viele Exklusivgeschichten. Die Beiträge des Meinungsteils sind dagegen meist einfach gestrickt: für weniger Sozialstaat, für das Recht, Waffen zu tragen und für die Republikaner, je konservativer, desto besser. Der Journalist William Grimes, der die Seiten von 1948 bis 1961 leitete, hatte den Meinungsteil einmal als "radikal" bezeichnen. "Wir glauben an das Individuum, seine Weisheit und seine Würde", was sehr sympathisch klingt, aber in einer Redaktion kaum ausreicht, wenn es etwa um die Behandlung sozialer Fragen geht.

Wer ökonomische Entscheidungen trifft, braucht ökonomische Fakten

Auch früher schon knirschte es beim Journal zwischen Meinungs- und Faktenteil. Aber über Grimes' radikalen Individualismus konnte man immerhin reden. In einer Kultur der alternativen Fakten, der schnellen, ungeprüften Meinung und des Hasses ist das nicht mehr so einfach. So bestreiten Autoren des Meinungsteils immer wieder den Klimawandel oder reden Corona klein. Beides sind eigentlich keine Meinungs-, sondern Faktenfragen. Und dann der amtierende Präsident der USA. Donald Trumps protektionistische Handelspolitik, sein Umgang mit Demonstranten und Einwanderern und seine Angriffe auf die Unabhängigkeit der Notenbank lassen sich kaum mit der Philosophie William Grimes' vereinbaren. Sie sind noch nicht einmal konservativ. Ein Konservativer muss sich ziemlich verbiegen, wenn er trotzdem Trump unterstützt. Und genau das merkt man den Meinungsseiten auch an.

Traditionell ist das Journal vor allem eine Wirtschaftszeitung. Wer ökonomische Entscheidungen trifft, ohne ökonomische Fakten zur Kenntnis zu nehmen, den bestraft der Markt. Man kann nur ahnen, was es auf Dauer bedeutet, wenn Politik und Gesellschaft immer mehr Faktenfragen mit Meinungen verwechseln, wenn die Debatte über Erkenntnisse der Wissenschaft durch politische Statements ersetzt wird. Wenn es um das Tragen von Masken geht, um Zölle oder, um ein deutsches Beispiel zu nehmen, um den Berliner Mietendeckel und seine Folgen für den Wohnungsmarkt.

Was das Wall Street Journal selbst betrifft, kann man der Sache aber auch etwas Positives abgewinnen. Es ist alles andere als selbstverständlich, dass der Konflikt zwischen nüchternen Fakten und steilen Meinungen dort überhaupt offen ausgetragen werden kann. Das Journal gehört zum Reich des Medienmoguls Rupert Murdoch, der in Amerika unter anderem den rechten Kampfsender Fox News betreibt. Als Murdoch das Journal am 1. Oktober 2007 für fünf Milliarden Dollar - vermutlich eine viel zu hohe Summe - von der Verlegerfamilie Bancroft erwarb, fürchteten viele Journalisten das Schlimmste. Viele verließen die Zeitung. Dieses Schlimmste, die Gleichschaltung mit Fox, ist nicht eingetreten. Der Meinungsteil ist radikal, der Nachrichtenteil berichtet kritisch wie eh, und je, und man kann sich vorstellen, dass sie sich im Weißen Haus sehr häufig darüber ärgern.

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Quelle:
SZ vom 18.09.2020
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