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Pipers Welt:Kapitalismus gibt es nicht

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Wahlweise geht es entweder zu Ende mit ihm oder er ist gefräßig und todbringend wie nie: Doch statt sich Parolen gegen den Kapitalismus zu widmen, sollte die Jugend die wirklich drängenden Fragen stellen.

Von Nicolas Piper

Zuletzt war viel vom Ende des Kapitalismus die Rede. "Make Capitalism History " stand auf schwarzen Kapuzenpullis bei den Anti-EZB-Krawallen in Frankfurt. " Smash Capitalism " fordern Leute, die den G7-Gipfel auf Schloss Elmau verhindern wollen. Der angesehene Soziologe Wolfgang Streeck hat ein Buch veröffentlicht, in dem er das nahe Ende des Kapitalismus voraussagt.

Höchste Zeit also, einmal zu fragen, was dieser "Kapitalismus" ist und ob er die Wirklichkeit zutreffend beschreibt. Wie so oft lohnt es sich, dazu erst einmal in den "Grundsätzen der Wirtschaftspolitik" bei Walter Eucken (1891-1950) nachzuschlagen. Der große Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft schrieb "Kapitalismus" meist nur in Anführungszeichen. Er mochte den Begriff nicht, denn er gehörte für ihn zu den ideologisch aufgeladenen Schlagworten, die "wie ein Dunst über der Wirklichkeit" lagerten.

Heute könnte sich Eucken bestätigt sehen. Je mehr über den Kapitalismus geschimpft wird, desto irrationaler wird die Debatte. Das Schlagwort hat sich verselbstständigt, so als sei Kapitalismus eine handelnde Person: "Kapitalismus tötet", heißt es, "der Kapitalismus ist gescheitert", "der Kapitalismus muss gezähmt werden". Und es gibt auch die Debatte, ob mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 der Kapitalismus über den Sozialismus gesiegt hat oder auch nicht.

Nein, der Kapitalismus hat 1989 nicht gesiegt. Wohl aber ist in Moskau, Ostberlin und anderswo eine Machtelite gescheitert, die glaubte, ohne die Bestandteile dessen auszukommen, was man heute Kapitalismus nennt: Markt, Privateigentum an den Produktionsmitteln, Rechtsstaat, Demokratie. Ja, es gibt kapitalistische Staaten, die keine Demokratie sind (etwa die Volksrepublik China), aber es hat noch nie einen nicht-kapitalistischen Staat gegeben, der demokratisch regiert wurde. Und Staaten, die den Kapitalismus abschaffen wollen, gleiten meist langsam in eine Diktatur hinüber, wie derzeit in Venezuela zu beobachten.

Antikapitalismus kommt in Deutschland meist links daher, hat aber oft etwas Reaktionäres, wenn er sich gegen Freihandel und den Westen richtet. Das ist das Erbe Werner Sombarts (1863-1941). Es war Sombart - und nicht Karl Marx - , der den Begriff Kapitalismus in Deutschland popularisiert hat. Er bewegte sich in seinem Leben von links nach sehr weit rechts und endete schließlich als Antisemit und Bewunderer des Nationalsozialismus. Wer heute den "angelsächsischen Finanzkapitalismus" verdammt, der weiß vermutlich nicht, wie sehr er in der Tradition von Sombart und dessen Verachtung für das "Händlervolk" der Briten steht.

Die Menschheit steht vor riesigen Problemen und niemand weiß, ob es gelingen wird, sie zu lösen: acht oder neun Milliarden Menschen ernähren; den Klimawandel begrenzen; die Sozialstaaten finanzierbar machen. Gut möglich, dass die Globalisierung scheitert, weil zu viele Menschen mit Einwanderung und internationaler Arbeitsteilung überfordert sind. Die Parolen vom "Kapitalismus" verhindern aber, dass harte Fragen (Eucken nannte sie "ursprüngliche Fragen") gestellt werden: Wie können die knappen Ressourcen ohne Markt effizient genutzt werden? Wie können Megastädte überleben? Was bedeutet die Digitalisierung für die Arbeitsplätze? Statt aber zu fragen, verschwenden junge Leute ihre Zeit und die Ressourcen der Gesellschaft mit gewalttätigen Protesten gegen die EZB.

Mag sein, dass man den Begriff "Kapitalismus" auch sinnvoll verwenden kann. Aber dazu sollte man ihn erst einmal mit Inhalt füllen.

Die Kolumne "Pipers Welt" erscheint alle zwei Wochen, am Freitag, im SZ-Wirtschaftsteil.

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SZ vom 02.09.2015
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