Süddeutsche Zeitung

Pipers Welt:Hamiltons Augenblick

Könnten die Beschlüsse des EU-Gipfels der erste Schritt sein auf dem Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa? Der Gedanke ist nicht so abwegig.

Von Nikolaus Piper

Zu den erfolgreichsten Broadway-Musicals der jüngeren Zeit gehört "Hamilton". Es handelt vom Leben Alexander Hamiltons, einem der Gründerväter der Vereinigten Staaten, dessen Porträt heute die Zehn-Dollar-Note ziert. Die Schauspieler sind überwiegend schwarz und die Musik klingt nach Hip-Hop, Rap und Rhythm and Blues. Tatsächlich bietet Hamiltons Leben Stoff für die Bühne: Geboren 1755 oder 1757 (genau weiß man das nicht) als uneheliches Kind auf der damals britischen Karibikinsel Nevis. Die Mutter stirbt an Gelbfieber, er wird als Waise nach New York geschickt. Mitarbeiter George Washingtons im Unabhängigkeitskrieg, erster Finanzminister der Vereinigten Staaten, Tod 1804 nach einem Duell. Eigentlich sollte das Musical in diesem Jahr nach Hamburg kommen, wegen Corona wurde der Start aber auf 2021 verschoben.

Es gibt allerdings gute Gründe, sich in Europa schon heute intensiv mit Alexander Hamilton zu beschäftigen, besonders nach dem EU-Sondergipfel, der am Dienstagmorgen nach 91 Stunden zu Ende gegangen war. Hamiltons Verdienst war es seinerzeit, dass die Schulden der 13 Einzelstaaten aus dem Krieg gegen England von der Zentralregierung (sie residierte damals in New York) übernommen wurden. Erst durch dieses Band der Solidarität wurde aus ein paar Siedlerrepubliken eine Nation, die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Frage ist, ob nicht das in Brüssel beschlossene Hilfspaket von mehr als einer Billion Euro so etwas wie ein Hamiltonian Moment für Europa sein könnte. Genauer: Ob die Schulden, die die Europäische Kommission jetzt zur Finanzierung des Aufbaufonds in eigener Verantwortung aufnehmen darf, einen ähnlichen Schritt in Richtung Vereinigte Staaten von Europa bedeuten. Ob also Angela Merkel, Emmanuel Macron, Ursula von der Leyen und Charles Michel die Hamiltons Europas sind.

Die These vom Hamiltonian Moment beschäftigt Ökonomen wie Anatole Kaletsky (London), Historiker wie Harold James (Princeton), das Wall Street Journal und unzählige Finanzanalysten. Weil es dabei um die Zukunft geht, muss die Debatte notwendigerweise spekulativ bleiben. Sie ist deshalb aber nicht esoterisch, sondern kann das Bewusstsein für die historische Dimension der heutigen Politik schärfen.

Einige Aspekte sprechen sehr klar dagegen, das Europa von heute mit dem Amerika von 1790 zu vergleichen. Virginia und New York mögen extrem unterschiedlich gewesen sein (sie sind es bis heute), aber ihre Bürger konnten sich immerhin in derselben Sprache unterhalten. Hamilton warb für seine Ideen in den "Federalist Papers", die überall gelesen wurden. Dieses Band fehlt in Europa. Die meisten können sich zwar irgendwie auf Englisch verständigen, aber nur für die Bürger zweier kleiner Mitgliedsländer - Irland und, mit Einschränkungen, Malta, ist Englisch Muttersprache. Deshalb fehlt eine europäische Öffentlichkeit, in der schwierige Fragen der Finanzpolitik diskutiert werden könnten.

Ebenso wichtig: Anders als seinerzeit die amerikanische Regierung wird die Kommission in Brüssel zwar eigene Anleihen emittieren, nicht jedoch die Schulden der Mitgliedsstaaten übernehmen. Italien ist größter Nutznießer der Hilfen, muss aber mit seinem hausgemachten Schuldenberg von mehr als 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts allein fertig werden.

Alexander Hamilton lehnte die Sklaverei ab, aber er verhinderte auch nicht, dass sie erlaubt wurde

Und nun Argumente dafür, die Sache mit dem Hamiltonian Moment doch ernst zu nehmen. Allein die Tatsache, dass es künftig Anleihen geben wird, die von der Kommission emittiert und von den Mitgliedstaaten garantiert werden, verändert viel. Damit können die Finanzmärkte direkt über den Zustand Europas abstimmen. Auf einem Kapitalmarkt, auf dem es weltweit an guten Anlagemöglichkeiten mangelt, könnten diese Anleihen sehr gefragt sein, was einen starken Anreiz liefert, solide zu wirtschaften - je höher der Kurs, desto niedriger schließlich der Zins, der zu zahlen ist. Aus dieser Logik heraus könnten sich die Rudimente eines europäischen Finanzministeriums entwickeln, das vom Europäischen Parlament kontrolliert wird, möglicherweise ein Schritt in Richtung Fiskalunion.

Eine weitere Parallele: Sowohl Hamilton als auch der Brüsseler Gipfel hatten es mit Problemen zu tun, mit denen die meisten Einzelstaaten überfordert gewesen wären. Bei Hamilton war es der Unabhängigkeitskrieg, der den früheren Kolonien einen gewaltigen Schuldenberg hinterlassen hatte. Jetzt in Brüssel ist es eine Pandemie, deren Folgen für die Wirtschaft alles bis vor kurzem Vorstellbare überschreiten.

Dass es auf dem Brüsseler Gipfel soviel Bitterkeit und Hass gab, dass Polen und Ungarn sogar die Grundwerte der Union in Frage stellten, spricht nicht unbedingt dagegen, Vergleiche mit den USA von 1790 zu ziehen. Auch unter den 13 Staaten gab es damals fundamentale Gegensätze. Der wichtigste und bitterste dieser Gegensätze betraf die Sklaverei. Vermont hatte sie 1777 als erster Bundesstaat abgeschafft, Virginia und die andere Staaten im Süden mit ihren Plantagen kämpften kompromisslos dafür. Hamilton war Gegner der Sklaverei und besaß auch (anders als George Washington) niemals selbst Sklaven. Aber er verhinderte auch nicht, dass die Verfassung der USA in ihrer ersten Fassung die Sklaverei ausdrücklich zuließ. Damals wurden Spannungen geschaffen, die sich zwischen 1861 und 1865 in einem blutigen Bürgerkrieg entladen sollten.

Kein Thema, um das sich Europäer heute streiten, hat auch nur annähernd die Sprengkraft, die die Sklaverei seinerzeit in den USA besaß. Umso mehr lohnt es sich, aus den Erfahrungen zu lernen und die Eigendynamik finanzpolitischer Entscheidungen nicht zu unterschätzen. Der Schriftsteller Mark Twain soll gesagt haben: "Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich."

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SZ vom 24.07.2020
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