Süddeutsche Zeitung

Pipers Welt:Ein bisschen Malthus

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Das "Bevölkerungsgesetz" des britischen Ökonomen hat bis heute einen schlechten Ruf. Aber die Lage auf dem Wohnungsmarkt zeigt, wie wichtig die Demografie ist.

Von Nikolaus Piper

Thomas Robert Malthus hat unter Historikern und Ökonomen bis heute keinen besonders guten Ruf. Malthus, Pfarrer der Kirche von England, schrieb 1798 seine berühmte Theorie der Bevölkerungsentwicklung ("An Essay on the Principle of Population") und wurde so einer der Klassiker der Nationalökonomie. Aber das "Bevölkerungsgesetz", das er in dem Essay aufstellt, erschien und erscheint vielen als zu düster und menschenfeindlich: Die Menschen vermehren sich mit geometrischen Wachstumsraten (also wie 1, 2, 4, 8, 16), die Produktion von Lebensmitteln dagegen wächst nur linear (1, 2, 3, 4). Deshalb muss die Masse der Arbeiter immer am Rande des Existenzminimums vegetieren. Und wenn die Zeiten einmal besser sind, nach einer sehr guten Ernte etwa, bekommen die Arbeiter so viele Kinder, dass bald die alte Not zurückkehrt. Karl Marx bezeichnete Malthus' Buch verächtlich als ein "schülerhaft oberflächlich und pfäffisch verdeklamiertes Plagiat". Er glaubte, mit der Theorie habe die englische Oligarchie den Armen das Kinderkriegen austreiben wollen. Charles Dickens formte seine Figur des hartherzigen Ebenezer Scrooge aus den Weihnachtserzählungen, nachdem er sich mit Malthus beschäftigt hatte.

Tatsächlich sind die düsteren Vorhersagen des englischen Pfarrers nie eingetreten. Im Gegenteil: Zu Malthus' Zeiten lebte eine Milliarde Menschen auf der Erde, heute sind es mehr als sieben Milliarden. Absolute Armut, bei der Menschen in existenzieller Not sind, gibt es in den meisten Ländern nicht mehr. Dort, wo sie noch existiert, sind Krieg, Bürgerkrieg und Misswirtschaft schuld. Der Kapitalismus hat sich als viel produktiver erwiesen, als Malthus sich das vorstellen konnte. Neue Anbaumethoden haben die Landwirtschaft revolutioniert. Immer mehr Frauen können selbst bestimmen, wie viele Kinder sie haben wollen, zumindest in den Industrieländern. In Westeuropa sinkt die Bevölkerungszahl seit Jahrzehnten.

Weil das so ist, spielt die Bevölkerungsentwicklung in der öffentlichen Debatte über Wirtschaft kaum eine Rolle. Tatsächlich jedoch sind Veränderungen der Bevölkerung gerade heute von elementarer Bedeutung für die wirtschaftliche Zukunft eines Landes. Eine schrumpfende Bevölkerung hat weitreichende Konsequenzen für das Rentensystem, schnelles Bevölkerungswachstum in einem armen Land löst Migrationsströme aus.

Ein Feld, auf dem sich derzeit besonders gut malthusianische Zusammenhänge studieren lassen, ist der Wohnungsmarkt. Grund und Boden lassen sich nicht vermehren, deshalb ist hier auch kein Produktivitätsfortschritt wie in der Industrie möglich. Wenn alle Welt nach München will, kann man kein zweites München daneben stellen. Zuzug in die Städte macht den Boden knapp und teuer, und es gibt keine schnelle Abhilfe. Derzeit sind in Deutschland steigende Mieten eines der größten Armutsrisiken.

Junge Leute leben lieber in Single-Haushalten. Das macht Raum noch knapper

Im neuen Jahresgutachten des Sachverständigenrates der "fünf Weisen", das an diesem Mittwoch in Berlin vorgestellt wurde, finden sich dazu einige sehr aufschlussreiche Zahlen. Sie zeigen, dass die Immobilienpreise weltweit steigen, zum Teil dramatisch, und zwar umso schneller, je schneller die Bevölkerung eines Landes wächst. Im Euro-Raum sind die Preise seit 1991 real um 25,8 Prozent gestiegen, in den Vereinigten Staaten um 51,3 Prozent und in Neuseeland um stolze 255,7 Prozent. Im Vergleich dazu war die Entwicklung in Deutschland mit einem Plus von real 2,9 Prozent noch sehr moderat. Das ist zunächst nicht erstaunlich, denn in Deutschland leben heute nur 3,5 Prozent mehr Menschen als 1991. Aber die Verteilung der Menschen im Raum ändert sich rapide. Eine große Binnenwanderung hat bereits stattgefunden, vor allem aus den neuen in die alten Bundesländer. Die Bevölkerung von Sachsen-Anhalt ist seit 1991 um 21,9 Prozent geschrumpft, die von Baden-Württemberg um 11,3 Prozent gestiegen, die Bayerns um 12,8 Prozent. Seit 2005 hat sich zudem die Stadtflucht beschleunigt. Das eigentliche Drama findet daher in den Städten statt. Die Bevölkerung Münchens ist innerhalb eines Jahrzehnts um 16 Prozent gestiegen, die Frankfurts um 15 und die Berlins um elf Prozent.

Und weil sich der Lebensstil besonders junger Leute ändert, gibt es viel mehr Single-Haushalte als früher, die entsprechend mehr Platz brauchen. Der durchschnittliche Wohnraum pro Person ist von 41,2 (2005) auf 46,5 Quadratmeter gestiegen. All das schlägt sich in einer Explosion der Mieten und der Immobilienpreise nieder. In den sieben größten Städten Deutschlands sind die Mieten allein seit 2010 um 42 Prozent gestiegen.

Was sich in den Städten tut, kann man durchaus als malthusianische Entwicklung ansehen. Anders als zu Malthus' Zeiten ist der knappe Faktor dabei nicht die landwirtschaftliche Anbaufläche, sondern städtischer Baugrund. Die Knappheit kann bis zu einem gewissen Grad gelindert werden, durch Verdichtung, Bebauung der letzten Freiflächen oder Ausdehnung des Speckgürtels um die Großstädte. Dem sind aber Grenzen gesetzt, besonders, wenn man den Flächenfraß bekämpfen will. Es ist auch nicht zu erwarten, dass die Menschen plötzlich schneller heiraten, um den Raumbedarf pro Kopf zu verringern. Die fünf Weisen machen zwar ein paar pragmatische Vorschläge zur Entspannung auf dem Wohnungsmarkt, haben aber auch kein Patentrezept.

Wenn man den demografischen Hintergrund der Wohnungsmisere zur Kenntnis nimmt, dann bedeutet das nicht Resignation, sondern Pragmatismus. Das kann einiges Gift aus der Debatte nehmen. Der Kapitalismus ist nicht schuld an der Wohnungsnot, es sind auch nicht die Spekulanten (auch wenn viele an ihr verdienen). Schuld sind langfristige demografische Veränderungen, die man, wenn überhaupt, nur auf sehr lange Frist ändern kann. Oder, wie es die Wahlkampfmanager von Bill Clinton einst formuliert hätten: "It's Thomas Malthus, stupid."

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Quelle:
SZ vom 09.11.2018
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