Pharmaindustrie:Beobachten und kassieren

Pharmaindustrie: Warum verschreibt der Arzt gerade dieses Mittel? Vielleicht weil dazu gerade eine Studie läuft.

Warum verschreibt der Arzt gerade dieses Mittel? Vielleicht weil dazu gerade eine Studie läuft.

(Foto: mauritius images)

Jedes Jahr zahlen Pharmafirmen Millionen Euro, damit Ärzte ihre Präparate verschreiben. Eine Studie zeigt nun erstmals, wie wirksam diese Strategie ist.

Von Christina Berndt und Markus Grill

Manchmal sind es nur ein paar Kreuzchen, manchmal ist es auch ein bisschen mehr Aufwand. Dann füllen Ärzte einen kleinen Fragebogen aus und melden vielleicht noch ein paar Labordaten. Die Entlohnung ist in jedem Fall erklecklich: Mehrere hundert, manchmal auch einige tausend Euro pro Patient bekommen Mediziner, wenn sie an einer Anwendungsbeobachtung (AWB) teilnehmen - wenn sie also im Auftrag einer Pharmafirma notieren, wie deren Medikament XY bei einem Patienten wirkt.

Beobachter wie die Organisation Transparency International kritisieren die AWB schon lange. Sie seien keine Studien, die zur Sicherheit von Medikamenten beitragen, sondern ein schlichtes Marketinginstrument: Pharmafirmen wollten Ärzte dazu bringen, Patienten ihre Mittel zu verschreiben - schließlich lohnt es sich für die Mediziner, wenn sie sich für eine Therapie mit einem bestimmten Mittel entscheiden statt für ein Konkurrenzprodukt.

Die aus der Beobachtung gewonnenen Daten seien oft schlecht, bemängeln Kritiker

"Für mich ist das eine Art von legaler Korruption", sagte der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach NDR, WDR und SZ auf Anfrage. "Den in AWB vorgenommenen Beobachtungen steht kein wissenschaftlicher Wert gegenüber." Nebenwirkungen müssten Ärzte ohnehin melden. "Insofern sind die AWB nichts anderes als eine Strategie des Unternehmens, dem Arzt einen Anteil an den Verschreibungen zu geben. Das führt zu falschen Anreizen."

Wie stark die AWB den Markt prägen, haben Wissenschaftler um Cora Koch von der Uniklinik Freiburg und Klaus Lieb von der Uniklinik Mainz nun erstmals untersucht. Sie wollten wissen, ob sich Ärzte in der täglichen Routine von den AWB darin beeinflussen lassen, welches Mittel sie verschreiben, und werteten dazu die Daten von fast 7000 Ärzten aus. Demnach verordnen Mediziner, die an einer AWB teilnehmen, das entsprechende Medikament tatsächlich vermehrt, berichten Koch und Lieb in der Fachzeitschrift Plos Medicine.

So verschrieben die Ärzte, die für die Beobachtung ihrer Patienten Geld erhielten, die in der Studie untersuchten Mittel um acht Prozent häufiger als der Durchschnitt ihrer Kollegen. Der Effekt war nachhaltig: Selbst wenn die AWB schon ein Jahr beendet waren und somit kein Geld mehr floss, war der Anteil an Verschreibungen noch um sieben Prozent höher als in der Vergleichsgruppe. Erstmals habe damit eine große Studie gezeigt, dass AWB tatsächlich das Verordnungsverhalten beeinflussen und "weitgehend mit dem Ziel des Marketings und des Aufmerksammachens auf die Substanz" genutzt werden, sagt Studienautorin Koch.

Dem stimmt auch Christiane Fischer zu. Die Ärztin arbeitet im Vorstand des People's Health Movement Deutschland und engagiert sich gegen Korruption im Gesundheitswesen. Sie sagt: "Die Studie bestätigt, dass die AWB das Verschreibungsverhalten verändern." Nachzulassungsstudien könnten sinnvoll sein, sagt Fischer - aber nur, wenn sie von unabhängiger Seite durchgeführt werden und nicht von den Pharmafirmen selbst. "Sonst wird hier der Kläger zum Richter gemacht."

Ein Plus von acht Prozent mag nach wenig klingen, ergänzt der Studienautor Lieb. Allerdings bewegen sich die Ausgaben für Medikamente in Deutschland im Milliardenbereich - es gehe somit potenziell um "sehr große Beträge". Denn groß ist auch die Anzahl der AWB. Laut Kassenärztlicher Vereinigung fanden 2019 insgesamt 438 AWB zu 358 Medikamenten statt. 18 500 Ärzte waren daran beteiligt, allerdings wurden manche doppelt gezählt, weil sie an mehreren AWB teilnahmen.

Letztlich seien AWB auch ein Risiko für die Kranken, sagt Cora Koch. Sie seien ein Anreiz für Ärzte, ihren Patienten womöglich nicht das für sie beste Medikament zu verschreiben, sondern jenes, für das es eine Zusatzprämie gibt. "Die größte Gefahr sehen wir darin, dass neue und teure Medikamente, mit denen weniger Erfahrungen vorliegen und die möglicherweise noch unbekannte Nebenwirkungen haben, statt älterer, bekannter Medikamente verschrieben werden und damit Patienten schaden könnten", sagt Koch.

Pharmafirmen reagieren auf Anfrage verhalten. So hat die Firma Allergan an Ärzte, die die Anwendung von Augentropfen mit den Wirkstoffen Timolol und Bimatoprost "beobachteten", für jeden Patienten 375 Euro gezahlt. Eine Anfrage von NDR, WDR und SZ, wie viele AWB das Unternehmen insgesamt aufgelegt habe und warum es diese umstrittenen Studien überhaupt praktiziere, wollte Allergan nicht beantworten und teilte nur mit: "Wir bitten um Ihr Verständnis, aber wir möchten an dieser Umfrage nicht teilnehmen."

Das Pharmaunternehmen Grünenthal dagegen, das insgesamt neun AWB zu seinem Schmerzmittel Tapentadol durchgeführt hat, legt Wert auf die Feststellung, dass die AWB "ausschließlich dem medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn dienten". Auch die Firma MSD schreibt, dass AWB in der Arzneimittelforschung eine "wichtige Rolle" spielten.

Klaus Lieb, der Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft ist, hört diese Beteuerung immer wieder - aber sie überzeugt ihn nicht. Die Daten aus den AWB seien "häufig von schlechter Qualität", sagt er. So fehlt eine Kontrollgruppe, außerdem ist die Zahl der beobachteten Patienten in der Regel so klein, dass seltene Nebenwirkungen gar nicht auffallen. Lieb fordert daher, "dass die Anwendungsbeobachtungen jetzt definitiv endlich abgeschafft gehören". Auch Karl Lauterbach sagt: "Diese Studien sollten ganz grundsätzlich verboten werden."

Bereits 2016 hatten NDR, WDR, SZ und Correctiv eine Auswertung aller AWB der Jahre 2009 bis 2014 veröffentlicht. Demnach nahm 2014 jeder zehnte niedergelassene Arzt an einer AWB teil: Knapp 17 000 Mediziner bekamen im Durchschnitt 669 Euro pro Patient. Auf diese Weise verteilte die Pharmaindustrie jedes Jahr rund 100 Millionen Euro.

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