Süddeutsche Zeitung

Peter Bofinger:"Beim kleinsten Windhauch aus der Kurve"

Peter Bofinger über Nebenwirkungen der Krise und Strafsteuern für "Heuschrecken".

Melanie Ahlemeier und Hans-Jürgen Jakobs, Videos: Marcel Kammermayer

Wenn Peter Bofinger, 54, aus dem Fenster seines Büros in der Universität Würzburg schaut, fällt sein Blick auf Weinhänge und die Festung Marienberg. Einen Ruf der Universität München lehnte der Professor für Volkswirtschaftslehre vor einigen Jahren ab - Würzburg gefällt ihm einfach zu gut. Bofinger gehört dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung an, er ist somit einer der fünf Wirtschaftsweisen und wurde kürzlich für weitere fünf Jahre im Amt bestätigt. Sein neues Buch trägt den Titel "Ist der Markt noch zu retten?". Ein Gespräch über die Konsequenzen aus der Wirtschaftskrise, warum der Staat stark sein muss - und die Freude der späten Genugtuung.

sueddeutsche.de: Herr Professor Bofinger, beim Sachverständigenrat sehen Sie sich selbst als "eine Art Allgemeinarzt für Wirtschaftspolitik, der von Fußpilz bis Herzinfarkt von allem eine Grundvorstellung haben sollte". Wie lautet Ihre Diagnose für den Patienten Deutschland? Wann berappelt er sich vom Herzinfarkt Wirtschaftskrise?

Peter Bofinger: Der Patient Deutschland hat eine schwere Infektion, keinen Herzinfarkt. Er ist in sich robust, ganz einfach, weil Marktwirtschaften grundsätzlich robuste Systeme sind. Die Selbstheilungskräfte haben nach dem Lehman-Schock zeitweise versagt, aber der Patient ist sehr gut therapiert worden durch den Staat, der durch Konjunkturpakete die Nachfrage und durch Rettungsprogramme das Finanzsystem stabilisiert hat. Die Notenbanken haben durch niedrige Zinsen ebenfalls dafür gesorgt, dass die Banken über die Runden gekommen sind. Der Patient ist durchaus auf dem Weg zur Besserung.

sueddeutsche.de: Das klingt angesichts vieler Firmenzusammenbrüche und steigender Arbeitslosenzahlen eher wie ein Wunsch.

Bofinger: Man muss natürlich auch sehen, dass wir in den letzten Jahren eine Entwicklung gehabt haben, die Deutschland nicht so gut bekommen ist. Das Land hat sich darauf verlegt, Exportweltmeister zu sein und vernachlässigte dabei die Binnennachfrage. Das ist so, als ob einer nur Bodybuilding macht und vergisst, auch einmal ein gutes Buch zu lesen.

sueddeutsche.de: Die Therapie fällt drastisch aus. In der Wirtschaftskrise spielt der Staat als Retter von Unternehmen eine ganz neue Rolle, zum Beispiel bei Opel. Der Staat kann aber nicht alle problematischen Unternehmen retten - wie der Fall des Handelskonzerns Arcandor beweist.

Bofinger: Der Staat hat in den letzten Jahren eine Art homöopathische Praxis gehabt. Es hieß: Der Markt regelt Probleme selbst, es wurden höchstens mal ein paar Pillen, Tropfen oder Salbe gegeben. Die Krise hat das Bild drastisch gewandelt. Beim homöopathischen Arzt werden jetzt laufend schwerverletzte Patienten eingeliefert.

sueddeutsche.de: Was heißt das konkret? Warum soll der Staat Opel retten, Arcandor aber nicht?

Bofinger: Es gibt keine Lehrbücher für Unternehmensrettungen und Bankenrettungen. Der Staat hat sich bisher insgesamt durchaus bewährt - hat aber auch Schwierigkeiten, seine neue Rolle wahrzunehmen und Grenzen zu ziehen. Im Fall Opel ist eine Grenze überschritten worden.

sueddeutsche.de: Sie hätten Opel in die Insolvenz geschickt?

Bofinger: Ich hätte es bevorzugt, wenn man bei Opel erst die Insolvenz in Angriff genommen und danach überlegt hätte, ob der Staat eventuell noch helfen kann. Aber vor der Insolvenz zu helfen bedeutet, dass es in Zukunft sehr, sehr schwer ist, die Trennungslinie zu ziehen, bei der der Staat eingreift oder nicht eingreift. Es gibt viele Unternehmen, die Schwierigkeiten haben.

sueddeutsche.de: Es breitet sich schnell süßes Gift aus. Auch Porsche und Schaeffler wollen Staatsgeld - also Unternehmen, die sich beim kapitalistischen Monopoly verzockt haben.

Bofinger: Das ist genau das Problem bei Staatsintervention - es werden falsche Anreize gesetzt. Unternehmen sollten nicht zocken, sie sollten nur solche Transaktionen eingehen, deren Risiken sie übersehen können. Darum ist es wichtig, dass der Staat jetzt nicht von vornherein eingreift, wenn die Insolvenz droht.

sueddeutsche.de: Also war Opel eine Fehlentscheidung?

Bofinger: Aus meiner Sicht war die Rettung falsch. Eine Insolvenz hätte den Vorteil gehabt, den amerikanischen Eigentümer endlich aus dem Boot zu werfen. Weil die ganze Produktentwicklung von General Motors von Detroit aus gesteuert wurde, konnte Opel sich nicht richtig entfalten. In der öffentlichen Diskussion wird nicht immer ganz klar: Die wichtigste Folge der Insolvenz ist, dass schlechte Eigentümer ausgesetzt werden. Bei Arcandor hat sich der Staat richtig verhalten.

sueddeutsche.de: In Ihrem neuen Buch "Ist der Markt noch zu retten? Warum wir jetzt einen starken Staat brauchen" beschreiben Sie den Staat als wichtigen Gegenpol zum Markt. Gehört Interventionismus zu Ihrem Leitbild eines starken Staats?

Bofinger: Nein. Es war aber wichtig, dass die Staaten die Banken gerettet haben. So konnte das globale Finanzsystem stabilisiert werden. Die Staaten haben auch bei der Konjunkturstabilisierung richtig reagiert, indem sie durch höhere Staatsausgaben eine keynesianische Politik machten und höhere Defizite in Kauf nehmen. Das ist der große Unterschied zu den dreißiger Jahren.

sueddeutsche.de: In vielen Staaten der Welt gibt es gelenkte Staatswirtschaften, zum Beispiel in China, Russland und den arabischen Ländern. In vielen Staaten des Westens ist der Staat jetzt durch Rettungsaktionen auch Unternehmer. Breitet sich ein neuer Wettbewerb zwischen staatskapitalistischen Systemen aus?

Bofinger: Ich möchte nicht dem Staatskapitalismus das Wort reden. Bei einem schweren Schock versagen die Immunkräfte des Systems - da braucht man den Staat, der massiv eingreift. Ich würde mich nicht dafür aussprechen, dass wir den Staat als Unternehmer brauchen. Gerade bei den Landesbanken haben wir gesehen, dass es nicht vorteilhaft ist, wenn der Staat betriebswirtschaftlich aktiv wird.

sueddeutsche.de: Was verstehen Sie eigentlich unter einem wünschenswerten "starken Staat"?

Bofinger: Einen Staat, der so handlungsfähig ist und so viele Ressourcen hat, dass er die Kräfte des Marktes in die richtige Richtung lenken kann. Marktkräfte sind an sich durchaus richtig, vital und dynamisch - aber sie können, wenn sie sich völlig ungelenkt entwickeln, den Markt selber gefährden. Zum anderen kommen die Ergebnisse der wirtschaftlichen Dynamik häufig sehr ungleich verteilt bei den Menschen an.

sueddeutsche.de: Was aber ist die "richtige Richtung", in die sich die Wirtschaft entwickeln sollte? Der Staat ist doch kein Hellseher.

Bofinger: Er hat eine ganz zentrale Rolle als Zukunftsinvestor. Der Staat als Interessengemeinschaft der Bürger ist die einzige Instanz, die dafür sorgt, dass wir als Einzelne in dieser globalisierten Welt unsere Interessen wahrnehmen können gegenüber anderen Staaten, gegenüber Unternehmen und gegenüber dem Markt.

sueddeutsche.de: Sie wollen für diese Rolle gleich eine Reihe von neuen Institutionen schaffen. Dabei scheint Ihnen ein sogenannter Zukunftsrat am wichtigsten zu sein. Warum?

Bofinger: In Deutschland denken wir immer an die Staatsschulden. Was wir brauchen, ist ein Zukunftsmonitor, mit dem man jederzeit genau ablesen kann, wie viel der Staat für zentrale Zukunftsbereiche wie Bildung, Infrastruktur, Forschung und Entwicklung und Umwelt ausgibt. Ich würde mir dazu einen Zukunftsrat wünschen, in dem Vertreter von Bund, Ländern, Wissenschaft und Interessengruppen sitzen - und der fortlaufend ermittelt, wie sich Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern in Europa um Wachstumsfelder kümmert. Auch die Bundesländer sollten dabei untereinander verglichen werden. Der Zukunft muss ein Forum gegeben werden.

sueddeutsche.de: Praktische Politik folgt aus einem solchen Zukunftsrat nicht. Der würde Daten ermitteln und Empfehlungen geben - genau wie es die Wirtschaftsweisen einmal im Jahr, weitgehend folgenlos, machen dürfen.

Bofinger: Es wäre doch gut, wenn der Zukunftsrat das Defizit bei den Zukunftsinvestitionen benennen und bebildern würde! Das wäre ein wichtiges Gegengewicht zu den populistischen Steuersenkungsversprechen der Politiker. Nur weil Wahlen sind, verspricht jeder Steuersenkungen, und das auch noch mit Erfolg beim Wähler. Das zeigt, wie eindimensional Menschen in Deutschland denken und wie schlecht Bürger informiert sind.

sueddeutsche.de: Hat der Staat überhaupt das richtige Personal, um die von Ihnen gewünschte Korrektivrolle zu spielen?

Bofinger: Die Politiker sind in Deutschland deutlich besser als ihr Ruf - das heißt aber nicht, dass sie perfekt sind. Es hat sich in der Krise eine gewisse Bunkermentalität breitgemacht. Gerade in so einer schwierigen Phase wäre es aber wichtig, dass Politik offener wäre für Außenmeinungen.

sueddeutsche.de: Was ist mit den Spitzenbeamten? Die müssten in einem starken Staat eine große Rolle spielen. Junge Talente haben aber in der Vergangenheit Jobs in Konzernen und Banken vorgezogen.

Bofinger: Wir haben sicher ein Problem bei der Besoldung von guten Beamten, die finanziellen Anreize sind gering. Wir sehen die Defizite mittlerweile auch daran, dass viele öffentliche Leistungen von Beratern wahrgenommen werden müssen, der Staat sich also Expertise einkauft. Anwaltskanzleien entwerfen Gesetze für den Staat. Man könnte sich durchaus fragen, ob es nicht besser wäre, die Spitzenbeamten besser zu bezahlen - dann könnte man das im eigenen Haus machen.

sueddeutsche.de: Lobbygruppen nehmen inzwischen subtil und subkutan Einfluss auf Gesetzesvorhaben. Mit einem starken Staat hat das nichts zu tun.

Bofinger: Der Bundesrechnungshof sollte das alles einmal durchforsten und nachprüfen, wie viel es kostet, dass zunehmend staatliche Aufgaben von privaten Beratungsunternehmen wahrgenommen werden. Und ob es im Vergleich dazu teuerer wäre, Spitzenbeamte flexibler nach oben zu besolden.

sueddeutsche.de: Inwieweit steckt in dieser großen Krise eine Chance, die Menschen wachzurütteln?

Bofinger: Ich bin da skeptisch. Die Vorstellung, dass der möglichst ungehinderte Markt den maximalen Wohlstand für die Menschen bringt, ist massiv in Frage gestellt worden - das ist die Chance. Die deutsche Wirtschaftspolitik bis zur Krise war eine Politik, bei der der Staat sukzessive nach hinten gedrängt wurde. Die Staatsquote sank von etwa 49 Prozent auf 44 Prozent - das sind grob 100 Milliarden Euro, die der Staat im Jahr 2008 weniger als 1999 gehabt hat. Wir hatten unter dem Eindruck des Zeitgeistes einen Prozess der Entstaatlichung.

sueddeutsche.de: Aufgrund der Staatsmaßnahmen gegen die Krise steigt die Staatsquote ganz automatisch wieder an - ebenso wie die Schulden. Schon geht der Bundesfinanzminister von einer horrenden Neuverschuldung von 90 Milliarden Euro für 2010 aus.

Bofinger: Natürlich soll man nicht unkontrolliert Staatsschulden eingehen, das ist doch klar. Aber die Gefahr ist eben, dass die Zukunftsvorsorge unter die Räder gerät.

sueddeutsche.de: Zur Rückführung der Defizite hat die Bundesregeirung deshalb eine "Schuldenbremse" in einigen Jahren fixiert ...

Bofinger: ... das halte ich für ein Unglück, weil man damit die unternehmerische Rolle des Staates für immer verbietet. Wenn man sieht, wie wenig die Märkte in der Lage sind, gestaltend zu wirken, finde ich das erschreckend.

sueddeutsche.de: Sie fordern auch eine "Heuschrecken-Steuer" für Finanzinvestoren, die sich in Firmen einkaufen und die sie ein paar Jahre später verkaufen wollen. Ist das nur eine akademische Übung oder glauben Sie wirklich, das könnte greifen?

Bofinger: Wir sehen jetzt in der Krise, dass viele Unternehmen in Schwierigkeiten geraten, die zuvor von Heuschrecken-Investoren erworben wurden. Die fallen beim kleinsten Windhauch aus der Kurve. Deswegen finde ich eine Heuschrecken-Steuer von zehn Prozent sinnvoll. Sie ähnelt der Grunderwerbssteuer für Immobilienkäufe und ist fällig, wenn ein Unternehmen erworben wird. Bleibt das Unternehmen über zehn Jahre in der Hand des Erwerbers, zahlt der Staat die Steuer zurück. Es geht um Nachhaltigkeit im Wirtschaftsprozess.

sueddeutsche.de: Einen großen Einfluss auf dem Finanzmarkt haben die drei großen Ratingagenturen Standard & Poor's, Moody's und Fitch. Sie bewerten Kredite und Anleihen und haben in der Krise eine unrühmliche Rolle gespielt. Auch Schrottpapiere erhielten Top-Prädikate. Was soll hier passieren?

Bofinger: Das Geschäftsmodell der Ratingagenturen beruft sich auf das Recht der freien Meinungsäußerung. Es ist für eine Marktwirtschaft aber eine ziemlich merkwürdige Vorstellung, dass jemand Einnahmen für eine Bewertung erzielt, ohne für sein Urteil zu haften. Das zweite Problem ist, dass es hier keinen Wettbewerb gibt. Alle drei großen Ratingagenturen sind unbeschadet aus der Krise herausgekommen. Alle anderen Akteure auf den Finanzmärkten gehen heute in Sack und Asche, haben ihr Vermögen und ihre Jobs oder haben als Investmentbanken ihren Status verloren. Wir brauchen eine europäische Ratingagentur, die von den europäischen Staaten etabliert wird. Sie könnte international Standards setzen und wäre ein Gegengewicht zur Dominanz der amerikanischen Ratingagenturen.

sueddeutsche.de: Auch an der zersplitterten Bankenaufsicht in Deutschland üben Sie Kritik: Sie liegt teils bei der Bafin, teils bei der Bundesbank. Muss hier auch größer gedacht werden?

Bofinger: Im Grunde bräuchten wir eine europäische Bankenaufsicht. Das Nebeneinander eines weitgehend integrierten europäischen Finanzmarktes mit nationalen Aufsichtsbehörden ist ein Anachronismus. Wenn wir einen gemeinsamen Währungsraum und eine Wirtschaftsgemeinschaft bilden, brauchen wir eben auch eine gemeinsame europäische Bankenaufsicht. Es ist problematisch, dass man an nationalen Kompetenzen festhält. Da sollte man den Mut zu radikalen Reformen haben.

sueddeutsche.de: Die USA sind bei der Bankenrettung radikaler vorgegangen als die Bundesrepublik, erste US-Institute zahlen die Staatshilfen bereits zurück. Wäre das amerikanische Modell auch hierzulande empfehlenswert gewesen?

Bofinger: Wir haben in Deutschland sehr schnell und massiv reagiert, aber es fehlte der Mut, die Verstaatlichung von Banken konsequenter anzugehen. Sicher, man musste Hypo Real Estate und Commerzbank am Leben halten, obwohl nach streng marktwirtschaftlicher Konsequenz die Insolvenz völlig angemessen gewesen wäre. Aus meiner Sicht wäre es aber die beste Lösung gewesen, diese Institute schneller zu verstaatlichen. Das hätte dem Steuerzahler viel Geld gespart, weil sich die Institute dann schon vom Herbst an sehr viel billiger hätten refinanzieren können.

sueddeutsche.de: Beim Bankenrettungsfonds Soffin werden die Gelder nur in homöopathischen Dosen abgerufen. Die Banken zögern. Hätte sich die Regierung den Fonds gleich ganz sparen sollen?

Bofinger: Wir sind in Deutschland zunächst in die falsche Richtung gegangen, man wollte die Banken vor allem mit Garantien und zusätzlichem Eigenkapital stabilisieren. Wir vom Sachverständigenrat hatten von Anfang an das Bad-Bank-Modell bevorzugt. Man kommt nicht daran vorbei, die Bankbilanzen von schlechten Aktiva zu bereinigen, so dass die wieder ohne den Schatten der Vergangenheit operieren können.

sueddeutsche.de: Lange Schatten der Vergangenheit werfen die durch Fehlspekulationen in Schieflage geratenen Landesbanken.

Bofinger: Die Ministerpräsidenten finden ihre lokalen Besonderheiten offenbar wichtiger als die schnelle Schaffung eines effizienten Finanzsystems in Deutschland. Ein Problem sind aber auch Bund und Länder, die die Sparkassen jetzt mit in die Haftung für die Landesbanken nehmen wollen.

sueddeutsche.de: Viele Marktbeobachter sehen in einem Zusammenschluss von Landesbanken und Sparkassen viele Vorteile. Sie auch?

Bofinger: Ich finde einen Zusammenschluss nicht gut. Und ich finde es auch falsch, dass die Sparkassen für die Altlasten der Landesbanken aufkommen. Natürlich sind die Sparkassen teilweise Eigentümer der Landesbanken - aber sie jetzt mit den Problemen der Landesbanken zu belasten, bedeutet, einen bisher noch sehr funktionsfähigen Bestandteil unseres Finanzsystems in den Strudel der Finanzkrise zu ziehen. Es ist doch besser, wenn Bund und Länder für die Lasten der Landesbanken aufkommen und die Sparkassen außen vor lassen.

sueddeutsche.de: Sie loben die Sparkassen, die von der Krise weniger betroffen sind. Was könnte Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann von diesen Instituten lernen?

Bofinger: Der große Vorteil von Sparkassen und Kreditgenossenschaften ist, dass sie vor Ort sehr stark präsent sind und dadurch Informationsvorteile haben. Bei den Großbanken beobachtet man schon, dass die Direktoren der Niederlassungen alle zwei, drei Jahre wechseln. Sie sind überhaupt nicht in die lokalen Beziehungen integriert. Der Direktor der Sparkasse ist fast über Jahrzehnte hinweg da, der kennt seine Pappenheimer - und ich finde, das ist gar nicht so schlecht.

sueddeutsche.de: Herr Bofinger, wäre im Herbst ein starkes drittes Konjunkturpaket notwendig, um die wirtschaftlichen Aufwärtstendenzen zu unterstützen?

Bofinger: Ich würde zunächst einmal die Entwicklung in den nächsten zwei, drei Monaten beobachten. Es macht mich besorgt, dass immer mehr Unternehmen offensichtlich nicht aus eigener Kraft über die Runden kommen und staatliche Bürgschaften und Kredite einfordern. Wenn das in der Breite anhält, besteht die Möglichkeit, dass der Staat zum Groß-Kreditgeber für Unternehmen wird. Bei aller Sympathie zum starken Staat muss ich da sagen: Das gefällt mir nicht. Es kann nicht sein, dass Beamte entscheiden, welches Unternehmen überlebt.

sueddeutsche.de: Aber was ist, wenn sich die Konjunktur im Frühherbst nicht stabilisiert?

Bofinger: Dann müsste man über ein drittes Konjunkturpaket nachdenken. Aus meiner Sicht wäre eine Investitionszulage von zehn Prozent, auch für Automobile, sinnvoll. Jedes Unternehmen, das investiert, bekommt vom Staat etwas dazu. Das war schon in der Vergangenheit ein gutes Instrument. Damit könnte man wirklich den Bereichen der deutschen Wirtschaft helfen, die besonders stark von der Krise betroffen sind.

sueddeutsche.de: Und der Arbeitsmarkt? Wie wird er sich in den kommenden Monaten entwickeln?

Bofinger: Wir werden uns darauf einstellen müssen, dass wir bis 2010 in den Bereich von 4,5 bis fünf Millionen Arbeitslosen hineingeraten werden.

sueddeutsche.de: Das hängt insbesondere von der Entwicklung des zuletzt stark geschrumpften Bruttoinlandsprodukts ab.

Bofinger: Entscheidend ist aus meiner Sicht, dass wir in diesem Jahr den Boden erreichen - und wir nicht wie in den dreißiger Jahren eine fortgesetzte Abwärtstendenz haben. Meine Vorstellung ist, dass wir 2010 eine stagnative Tendenz erleben werden, vielleicht mit einem geringen Wachstum von 0,5 Prozent. Wir werden den Talboden nicht so schnell verlassen.

sueddeutsche.de: Liegt das Schlimmste vor oder hinter uns?

Bofinger: Für die Industrie ist eine Bodenbildung da. Ich glaube nicht, dass die Auftragseingänge weiter einbrechen werden. Für die Arbeitnehmer wird das wahre Ausmaß der Krise jedoch erst im Laufe dieses und im Laufe des nächsten Jahres spürbar werden - wenn von der Kurzarbeit auf die Arbeitslosigkeit umgestellt wird. Das hat auch Rückwirkungen auf den privaten Verbrauch und wohl auch auf unternehmensnahe Dienstleistungen.

sueddeutsche.de: Mit Ihren Theorien gehörten Sie lange zu den Außenseitern der Ökonomen. Im Sachverständigenrat gaben Sie oft "Minderheitsvoten" ab. Nun zählen Sie mit Ihrer gelegentlich systemkritischen Haltung auf einmal zum Mainstream. Gibt Ihnen das Befriedigung?

Bofinger: Das freut einen schon. Ich habe ja eine gewisse Erfahrung damit. In den neunziger Jahren war ich einer der ganz wenigen deutschen Ökonomen, der für den Euro war. Später hieß es, ich sei der "letzte Keynesianer". Da hat sich inzwischen wirklich einiges geändert.

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