Wahrscheinlich begann alles in China. Dort war 1332 die Pest ausgebrochen, eine extrem ansteckende Seuche, deren Ursache man damals nicht kannte und gegen die es kein Mittel gab. Von China aus dehnte sie sich nach Westen aus und erreichte schließlich Europa, und zwar über eine Handelsgaleere aus der genuesischen Handelskolonie Caffa auf der Krim (heute: Feodossia), die Ende 1347 in den Hafen von Messina (Sizilien) einlief. Die Mannschaft war von der Seuche befallen und steckte die Menschen an Land an, die sie zunächst gastfreundlich aufgenommen hatten.
Von Messina aus breitete sich die Pest auf dem ganzen Kontinent aus. Die Pandemie, die man später den "Schwarzen Tod" nennen sollte, wurde eine der größten Katastrophen der Geschichte. Vermutlich ist dabei ein Drittel der Bevölkerung Europas gestorben, mindestens 25 Millionen Menschen. Einige Länder, etwa Frankreich und Italien, dürften die Hälfte ihre Einwohner verloren haben. Auslöser der Seuche ist das Bakterium Yersinia pestis; der sogenannte Rattenfloh überträgt es auf Ratten ebenso wie auf Menschen. Wer damals an der Pest erkrankte, bekam schwarze Eiterbeulen und starb oft schon wenige Stunden nach der Ansteckung.
Nach der Pest folgte ein goldenes Zeitalter für die Arbeit
Die gegenwärtige Corona-Epidemie, der bis Freitag weltweit mehr als 96 000 Menschen zum Opfer gefallen sind, hat ganz sicher auch nicht annähernd die Dimension der mittelalterlichen Pest. Aber in einem wichtigen Punkt lohnt sich trotzdem ein Vergleich. Epidemien haben oft langfristige und überraschende wirtschaftliche Konsequenzen. Die Pest ist dafür ein besonders gutes Beispiel. Kurzfristig waren die Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft furchtbar. Der Dichter Francesco Petrarca schrieb 1350, nachdem er die Stadt Rom besuchte: "Die Häuser liegen nieder, die Mauern fallen, die Tempel stürzen, die Heiligtümer gehen unter, die Gesetze werden mit Füßen getreten." Anders als der Coronavirus traf die Pest vor allem junge Leute, was den wirtschaftlichen Schaden noch erhöhte.
Langfristig jedoch führte die Katastrophe paradoxerweise dazu, dass es den Überlebenden substanziell besser ging und Europas Wirtschaft sich schneller entwickelte. Im Mittelalter, als es noch keine Industrie gab, hing das Wohlergehen der Menschen davon ab, wie viel und welches Land sie für die Landwirtschaft zur Verfügung hatten. Weniger Menschen bedeuteten mehr und besseres Land - also auch weniger Hunger und höhere Reallöhne. Der Wirtschaftshistoriker Hans-Joachim Voth von der Universität Zürich sagt: "Die Pestepidemie ist einer der Auslöser der Großen Divergenz zwischen Europa und dem Rest der Welt." Unter der Großen Divergenz verstehen Historiker die Tatsache, dass die europäische Wirtschaft spätestens nach 1700 sehr viel leistungsfähiger wurde als die anderer Kulturen wie China und Arabien. Zusammen mit seinem Kollegen Nico Voigtländer (University of California) veröffentlichte Voth eine Studie, die den Zusammenhang beschreibt: Der Bevölkerungsrückgang durch die Pest war so massiv, dass er auch mit mehr Geburten so schnell nicht ausgeglichen werden konnte. Deshalb wurde Arbeit knapp und teuer: "Über ein paar Generationen erlebte der alte Kontinent ein goldenes Zeitalter der Arbeit," heißt in dem Papier.
Die höheren Löhne reichten nicht nur fürs Überleben, viele Menschen konnten sich jetzt auch Luxusprodukte leisten. Die wurden in Städten hergestellt, weshalb die Verstädterung zunahm, der Geldumlauf und das Steueraufkommen. Beispielhaft dafür ist der Aufstieg der Fugger. Er begann kurz nach dem Ende der Pestzeit, als 1367 Hans Fugger, der Sohn eines Bauern aus Graben im Lechfeld, in die Freie Reichsstadt Augsburg zog und sich bei einem Leineweber verdingte. Er verwob Flachs mit feiner, importierter Baumwolle zu luxuriösem Barchent und begründete so ein Familienimperium, das jahrhundertelang Bestand hatte.
Auch die Inflation in Europa ging zurück, wie der Historiker Paul Schmelzing in einem neuen Arbeitspapier für die Bank von England schreibt: von 1,58 Prozent jährlich auf nur noch 0,65 Prozent von 1360 bis 1460. Es gab also keine Teuerung mehr, vor der die Menschen hätten Angst haben müssen. Die Pest hatte auch die Einstellung zum Konsum verändert. Die traumatische Erfahrung, dass das Leben plötzlich vorbei sein kann, führte, so Schmelzing, zum Wunsch, dieses wenigstens in vollen Zügen zu genießen. Das hatte zur Folge, dass der Anteil des Vermögens, der für den Konsum verwendet wird, zwischen 1350 und 1450 stark gestiegen ist. Ein Indiz dafür sind die Gesetze gegen übertriebenen Luxus, die viele italienische Städte erlassen haben. Venedig zum Beispiel verfügte 1430 eine Obergrenze für die Absatzhöhe von Damenschuhen.
Dieser Luxuskonsum war, nach Meinung einiger Forscher, die Voraussetzung für die Renaissance und den Abschied vom Mittelalter. Die höheren Löhne bedeuteten aber nicht unbedingt, dass es den Menschen in der Zeit gut ging. Tatsächlich nutzten Fürsten und Könige die höheren Steueraufkommen, um mehr Kriege zu führen. Die Städte wurden größer, aber das Leben in diesen Städten war extrem ungesund: Menschen und Tiere lebten eng beieinander, die Bürger entleerten ihre Nachttöpfe einfach auf die Straße, und Stadtmauern begrenzten das räumliche Wachstum. Krieg, Verstädterung und importierte Seuchen begleiteten den Fortschritt in Europa wie drei "apokalyptische Reiter", schreiben die Forscher Voth und Voigtländer in Anlehnung an die Offenbarung des Johannes in der Bibel.
Sowohl vor als auch nach dem Schwarzen Tod wurde die Menschheit von mörderischen Epidemien heimgesucht. Auch deren wirtschaftliche und politische Folgen waren unabsehbar. So brach 542 in Konstantinopel die Beulenpest aus. Diese nach dem oströmischen Kaiser Justinian benannte "Justinianische Pest" verheerte den gesamten Mittelmeerraum und könnte den Aufstieg des islamischen Weltreichs hundert Jahre später begünstigt haben.
Eine besondere Rolle im kollektiven Gedächtnis von Europäern und Nordamerikanern spielt die Spanische Grippe, die gegen Ende des Ersten Weltkriegs ausbrach. Von den absoluten Zahlen her war sie schlimmer als der Schwarze Tod: Mindestens 500 Millionen Menschen - ein Viertel der damaligen Erdbevölkerung - wurden angesteckt, mehr als 50 Millionen starben, viel mehr als im Krieg selbst. Die wirtschaftlichen Folgen waren aber zu vernachlässigen. Nach einer Schätzung des kanadischen Finanzministeriums kostete die Grippe ganze 0,1 Prozent Wirtschaftswachstum. Das mag damit zusammenhängen, dass als Folge der Demobilisierung nach dem Krieg sowieso eine Rezession ausgebrochen war.
Allerdings entfällt in Industriegesellschaften auch der langfristige Wachstumseffekt der Entvölkerung, wie er nach der Pestepidemie im Mittelalter festgestellt wurde. Wenn die meisten Waren in Fabriken hergestellt werden, wird es für die Reallöhne im Verhältnis weniger wichtig, wie viel Land für die Produktion von Lebensmitteln zur Verfügung steht.
Lernen kann man am Beispiel der Spanischen Grippe, wie wichtig Social Distancing in einer Pandemie ist. Nach einem Bericht des Wall Street Journal wartete die Stadtverwaltung von Philadelphia 16 Tage, bis sie die Bewegungsfreiheit ihrer Bürger einschränkte. Sogar eine Parade wurde noch genehmigt. Der Preis war hoch: Auf dem Höhepunkt der Seuche lag die Sterberate in Philadelphia fünfmal so hoch wie in St. Louis, das nach zwei Tagen mit Social Distancing begonnen hatte.
Das gab es noch nie: Die ganze Welt riskiert eine Rezession, um die Pandemie zu bekämpfen
Heute weiß man, dass es während einer Pandemie eine klare Wahl gibt: Entweder eine Gesellschaft akzeptiert kurzfristig wirtschaftliche Schäden, um die Seuche einzudämmen. Oder sie bezahlt dafür mit vielen Toten in der Zukunft. Was die jetzige Pandemie von allen anderen in der bisherigen Geschichte unterscheidet, ist die Tatsache, dass der größte Teil der Welt diese ökonomischen Kosten akzeptiert, dass sie eine schwere Rezession zulässt, um den Kollaps der Gesundheitssysteme zu verhindern und Menschenleben zu retten. In einigen Ländern, vor allem in Donald Trumps Amerika, kam die Reaktion verspätet, aber sie kam irgendwann doch. Gleichzeitig geben Politiker und Notenbanker Billionen Dollar und Euro aus für Programme, die vor wenigen Wochen noch unvorstellbar waren.
All dies hat es bisher noch nie gegeben. Auch wenn die Seuche eingedämmt ist und es einen Impfstoff gibt, wird sich die Politik daher mit den Spätfolgen der Rettungsprogramme befassen müssen. Über die Einzelheiten kann man heute nur spekulieren. Droht angesichts des vielen gedruckten Geldes jetzt wieder Inflation? Wird die Erfahrung mit den Lieferschwierigkeiten für Atemmasken und Beatmungsgeräte den Wunsch nach Autarkie in vielen Staaten verstärken? Werden Experimente wie das bedingungslose Grundeinkommen beliebter? Wird die Europäische Union das alles aushalten?
Nur eines ist sicher: Nach Corona wird die Welt anders aussehen als zuvor.