In Lateinamerika spielt seit der großen Krise in den achtziger und neunziger Jahren die solidarische Ökonomie eine besondere Rolle. Auch wenn ihr Anteil an der Gesamtwirtschaft gering ist, kann sie dort etwas bewegen, wo andere Konzepte scheitern. Das Prinzip: Solidarische Ökonomie setzt auf Kooperation und nicht auf Konkurrenz. Das kann gerade in solchen Unternehmen funktionieren, die ansonsten pleitegegangen wären, denn die Beschäftigten sind zu größeren Zugeständnissen bereit. Die Unternehmen werden dazu in Genossenschaften umgewandelt. Die solidarische Ökonomie ist vereinfacht gesagt die Genossenschaftsbewegung des 21. Jahrhunderts. Einer, der die solidarische Ökonomie in Brasilien vorangetrieben hat, ist der aus Wien stammende Paul Israel Singer, 83. Er beschäftigt sich schon lange mit Formen alternativen Wirtschaftens, mittlerweile tut er es offiziell in der brasilianischen Regierung: Er ist seit zwölf Jahren Staatssekretär für solidarische Ökonomie.
SZ: Müssen Sie bei Auslandsbesuchen noch erklären, was solidarische Ökonomie ist?
Paul Israel Singer: Nein. Alle Länder, in die ich eingeladen wurde, haben schon einen Teil ihrer Wirtschaft auf solidarische Ökonomie umgestellt. Zuletzt war ich in Kuba. Dort wird gerade diskutiert, wie auf Initiative der Arbeiter staatliche Unternehmen zu Genossenschaften werden können.
Interessiert sich auch in Deutschland jemand dafür?
Demnächst werde ich auf einem Kongress in Berlin berichten, was unser Sekretariat in Brasilien macht und wie sich die Beziehungen zwischen solidarischer und kapitalistischer Ökonomie gestalten.
Warum spielt die solidarische Ökonomie in Brasilien eine so wichtige Rolle?
Sie half vielen Menschen, als sich im Land eine Tragödie ereignete: In den achtziger Jahren kollabierte die Wirtschaft in Brasilien. Über zwei Jahrzehnte gab es kein Wirtschaftswachstum mehr. Das war die späte Folge des Ölpreisanstiegs in den siebziger Jahren. Seinerzeit mussten viele Länder das Öl auf Kredit kaufen. In den achtziger Jahren wollten die Banken ihr Geld zurückhaben, aber Lateinamerika hatte kein Geld.
War das ein Vorspiel zur jetzigen Krise in Europa?
Ja, vor allem, was das enorme Ausmaß der Arbeitslosigkeit angeht. Millionen verloren in Brasilien ihr Zuhause, weil sie kein Einkommen mehr hatten. In Argentinien war die Krise noch fürchterlicher. Dort verarmte die Hälfte der Bevölkerung. Man spricht hier von den verlorenen Jahrzehnten.
Was tat die Regierung, als die Wirtschaft einbrach?
Ich war damals in São Paulo für die wirtschaftliche Planung zuständig, und wir hatten keine Ahnung, wie wir die enorme Not lindern sollten. Wir hörten aus Europa, dass in Frankreich Betriebe besetzt wurden und kannten die alten Ideen von den Genossenschaften. Diese Konzepte wollten wir in Brasilien umsetzen: Genossenschaften bilden, die produzieren und gegenseitig ihre Produkte austauschen. Wir nannten es solidarische Ökonomie, aber es ist im Grunde die Genossenschaftsbewegung des 21. Jahrhunderts. Als ich einen Artikel über das Vorhaben veröffentlichte, bekam ich viele Briefe. Die Leute schrieben mir, dass es Vergleichbares doch längst gebe. Tatsächlich hatte die Caritas in vielen Orten Initiativen gestartet, die genau das machten, was wir vorhatten. Nur hatten wir nichts davon gewusst.
Wie kann die solidarische Ökonomie helfen?
Indem sie Arbeitsplätze rettet. Unternehmen, die pleitegehen, können in Brasilien ganz legal von den Arbeitern übernommen werden. Die Interessen der Beschäftigten haben hier großes Gewicht. Sie stehen vor den Ansprüchen der Banken. Denn wenn ein Unternehmen schließt, verlieren alle: die Beschäftigten, die Kunden, die Besitzer und die Banken. Wandeln hingegen die Arbeiter das Unternehmen in eine Genossenschaft um und sind sie als neue Eigentümer zu entsprechenden Zugeständnissen bereit, kann das Überleben gelingen.
Und die Mitarbeiter wissen, wie eine Genossenschaft funktioniert?
Sie bekommen dabei Hilfe von den Gewerkschaften, die sich hier gut damit auskennen. Genossenschaften und Gewerkschaften sind Zwillinge, sie kamen zusammen zur Welt: Die erste Genossenschaft gab es 1844 in Rochdale, in England. Sie sollte helfen, ihre Mitglieder günstig mit Lebensmitteln zu versorgen. Die Regeln, die damals aufgestellt wurden, sind bis heute die Essenz unserer Prinzipien.
Wollen denn die Beschäftigten auch alle Genossen werden?
Nein. Viele fühlen sich besser, wenn sie Arbeiter sind. Es ist bequemer und man hat Rechte als Angestellte. Als Mitglied einer Genossenschaft verlieren sie diese.
Dürfen sie dennoch als Angestellte in Genossenschaften bleiben?
Eigentlich nicht. Tatsächlich aber gibt es - gegen alle Prinzipien - trotzdem Angestellte in Genossenschaften.
Was macht ein genossenschaftlich geführtes Unternehmen anders?
Normalerweise gibt es im Unternehmen zwei Gruppen von Personen: Die Eigentümer, denen nicht nur das Unternehmen gehört, sondern auch das, was produziert wird. Und es gibt die Beschäftigten, die lediglich das Recht auf Lohn haben. Beide Seiten verfolgen unterschiedliche Interessen. Darum gibt es im Unternehmen immer eine Form von Klassenkampf. Anders ist es in den Genossenschaften, weil die Mitarbeiter gleichzeitig Eigentümer sind. Sie verwalten das Unternehmen kollektiv. Die Meinungsverschiedenheiten müssen auf Versammlungen gelöst werden. Alle Arbeiter sind gleich, alle haben eine Stimme - egal, wie lange sie dabei sind. Das führt dazu, dass das Interesse der Beschäftigten an dem, was im Unternehmen vor sich geht, viel größer ist als in herkömmlichen Unternehmen.
Gibt es einen Chef?
Wenn, dann wird er gewählt.
Funktionieren diese Unternehmen?
Das haben sich unlängst auch die Wissenschaftler gefragt. Es gab eine große Untersuchung, an der zehn verschiedene Universitäten beteiligt waren. Die wollten wissen, was aus den Genossenschaften geworden ist, die in Brasilien aus Unternehmen entstanden. Die Forscher fanden 67 Firmen, die immer noch aktiv sind. In São Paulo etwa das Stahlunternehmen Uniforja mit 2000 Mitarbeitern. Es ist ein Bund von vier oder fünf Genossenschaften. In Argentinien gab es noch weit mehr Unternehmen, die zu Genossenschaften wurden.
Wie viele Genossenschaften gab es, als die Krise in den Achtzigerjahren ausbrach?
Aus dieser Zeit gibt es leider keine genauen Zahlen. Viele Genossenschaften sind mittlerweile verschwunden, ohne dass man genau weiß, warum.
Ist heute noch überall Genossenschaft drin, wo Genossenschaft draufsteht?
Viele große Unternehmen sind weltweit als Genossenschaften organisiert: Die Rabobank in den Niederlanden, der Mischkonzern Mondragón in Spanien oder die Bank Desjardins in Kanada. Sie spekuliert nicht und ist darum stabiler als andere Geldinstitute. Ansonsten funktionieren Genossenschaften wie normale Unternehmen. Die Leute brauchen ein Gehalt und müssen davon leben können.
Wenn ein angeschlagenes Unternehmen Genossenschaft wird, reichen dann die Zugeständnisse der Mitarbeiter und ein Plus an Demokratie wirklich aus, um es dauerhaft zu retten?
Es kommt ja noch etwas hinzu: Solidarische Ökonomie bedeutet, dass die Genossenschaften untereinander nicht in Konkurrenz stehen, sondern zusammenarbeiten. Kooperation ist ein unterschätzter Wirtschaftsfaktor. Schon in den achtziger Jahren hatte der chilenische Ökonom Luis Razeto Migliaro nachgewiesen, wie erfolgreich sie sein kann. Gerade dann, wenn es an vielem fehlt. Die solidarische Ökonomie ist eben auch die große Währung der Arbeitslosen. Sie können sich ja keine eigenen Jobs schaffen, weil es an Kapital fehlt. Aber sie können das fehlende Kapital zumindest teilweise ersetzen, in dem sie sich zusammenschließen und gegenseitig unterstützen.
Was ist, wenn die Genossen echtes Kapital brauchen?
Normale Banken arbeiten nicht mit den Genossenschaften zusammen. Die Aussichten auf einen Gewinn sind zu klein. Darum entwickelte sich in den vergangenen Jahren auch eine solidarische Finanzwirtschaft. In Brasilien gibt es mittlerweile mehr als 100 Gemeindebanken, deren Besitzer die Einwohner sind. Die haben ihre eigene Währung, die hilft, das Geld im Ort zu behalten. Das wurde auch von der Zentralbank genehmigt, obwohl sie zunächst dagegen war. Doch am Ende war sie überzeugt, dass es genau das Richtige ist, um Armut zu bekämpfen.
Europa sollte sich angesichts der Krise in vielen Ländern dafür interessieren ...
Tut es auch. In Paris habe ich gerade erst Carole Delga kennengelernt, die in der französischen Regierung für solidarische Ökonomie zuständig ist. Wir haben beschlossen, dass beide Länder künftig kooperieren. In Frankreich gibt es seit einem Jahr ein neues Gesetz für solidarische Ökonomie. Das ist sehr interessant, viel fortschrittlicher als das bei uns.
Warum ist es fortschrittlicher?
Wenn eine Firma fusioniert werden soll oder ins Ausland abwandern könnte, sollen die Arbeiter zwei Monate vorher informiert werden. So erhalten sie die Möglichkeit, einen Plan vorzulegen, wie stattdessen aus dem Unternehmen eine Genossenschaft werden könnte.
Haben die Griechen schon bei Ihnen angerufen?
Ich habe mit der Regierung noch keinen Kontakt gehabt. Aber vor kurzem habe ich erfahren, dass sich die Griechen ebenfalls für dieses Thema interessieren. Ich verfolge die Ereignisse dort genau und wir würden sie gerne unterstützen.
Was würden Sie ihnen raten?
Ich würde ihnen vor allem empfehlen, sich gegen die geplanten Privatisierungen zu wehren.
Warum?
Die Leute, die die privatisierten Unternehmen nutzen, werden draufzahlen.
In Brasilien ist die große Krise vorbei, die Arbeitslosigkeit gering. Verliert jetzt die solidarische Ökonomie wieder an Bedeutung?
Nein, der Anteil von heute etwa drei Prozent an der gesamten Wirtschaft wächst sogar. Zudem machen wir an den Universitäten eine interessante Erfahrung: In Kursen zur solidarischen Ökonomie entdecken die Studenten, dass Wirtschaft auch anders funktionieren kann als es die klassische Lehre vorgibt. Sie nehmen dann oft an Projekten teil, beraten beispielsweise die Menschen in Dörfern. Das gefällt vielen so gut, dass sie der solidarischen Wirtschaft auch nach dem Studium treu bleiben.
Die Leute kennen immer nur rechts und links, Kapitalismus und Sozialismus. Ist die solidarische Ökonomie der dritte Weg?
Nicht unbedingt. Es ist eine unterschiedliche Form der Ökonomie, eine Alternative zum Kapitalismus. Der Kapitalismus trennt das eigentliche Leben und die Wirtschaft, die solidarische Ökonomie führt diese Sphären wieder zusammen. Dass das funktioniert, beweisen wir hier jeden Tag.