Süddeutsche Zeitung

Patentklage um Novartis-Krebsmittel Glivec:Medizinischer Fortschritt mit Nebenwirkungen

Niederlage für die Forschung oder Erfolg für die Patienten? Der Pharmakonzern Novartis verliert in Indien eine Patentklage für ein Krebsmedikament. Jetzt muss sich auch die Konkurrenz neu orientieren - denn günstige Nachahmerprodukte aus Asien könnten die ganze Welt erobern.

Von Helga Einecke, Frankfurt und Guido Bohsem, Berlin

Es geht um das Prinzip. Sieben Jahre lang kämpfte der Schweizer Pharmariese Novartis in Indien vor Gericht um sein Blutkrebsmittel Glivec. Vergebens. Das oberste Gericht in Neu-Delhi senkte nun endgültig den Daumen. Das Medikament sei nicht merklich besser als Vorgänger-Präparate, entschieden die Juristen. Es bedürfe keines Patentschutzes. Ganz legal darf das Leukämie-Präparat nachgeahmt werden. Krebspatienten in Indien soll eine Monatsration des gleichen Wirkstoffs damit 136 Euro anstelle der 1700 Euro kosten, die Novartis fordert.

Die Firma reagiert mit Bitterkeit auf das Urteil. "Die Entscheidung wird den medizinischen Fortschritt bei Krankheiten ohne wirksame Behandlungsmethoden behindern", sagt Ranjit Shahani, Novartis-Manager in Indien. Dagegen feiern Pharmakritiker wie die Organisation Ärzte ohne Grenzen den Richterspruch als Erfolg für die Patienten. Ihr Pharmaexperte Oliver Moldenhauer empfiehlt, ärmere Länder sollten dem indischen Beispiel folgen und Klauseln in ihre Patentgesetze aufnehmen.

Das wäre für die großen forschenden Pharmaunternehmen eine schreckliche Vorstellung. Sie nehmen für sich in Anspruch, mit neuen Wirkstoffen und Medikamenten die Menschheit Stück für Stück von Seuchen und Krankheiten zu befreien. Immer wieder rechnen sie vor, eine Milliarde Dollar in die Entwicklung eines neuen Präparats zu stecken. Das Geld wollen sie über einen 20-jährigen Patentschutz und hohe Preise hereinholen. So funktioniert das jedenfalls in den USA, Europa und auch in weiten Teilen der übrigen Welt, wenn auch mit immer mehr Hindernissen.

Bislang gab es keinen Rückzug aus Indien, sondern nur Drohungen

Denn die Schlappe von Novartis in Indien ist kein Einzelfall: Reihenweise verloren große Pharmaunternehmen dort zuletzt die Preishoheit über ihre Produkte, Pfizer beim Krebsmittel Sutent, Roche beim Hepatitis-Medikament Pegasys, Merck & Co. bei einer Asthma-Anwendung, Bayer beim Krebsmittel Nexavar. Der Verband forschender Arzneimittel in Deutschland formuliert die geballte Empörung seiner Mitglieder eher vorsichtig. In Indien ließen sich kaum Beiträge zur Refinanzierung der Forschungskosten erzielen, sagt der Sprecher. Jeder Anbieter von Originalmedikamenten müsse selbst über die Konsequenzen entscheiden.

Bislang hat es aber keinen Rückzug aus Indien, sondern nur Drohungen gegeben. Können es sich große Pharmafirmen überhaupt leisten, den indischen Markt zu ignorieren? Es handelt sich um einen sehr speziellen Markt mit einem riesigen Wohlstandsgefälle. Von den 1,2 Milliarden Menschen sollen nur 80 Millionen Zugang zu Medizin nach europäischem Standard haben. Es fehlt neben Versicherungen und bezahlbaren Medikamenten an Ärzten, Pflegekräften, Laboren. Vom Staat versprochen sind mehr billige Medikamente für mehr arme Leute auf dem Land.

Andererseits haben die Inder eine florierende Pharmaindustrie mit 20.000 Firmen aufgebaut, die Originalpräparate nachahmen. Erst seit 2005 erkennt Indien geistiges Eigentum an, eine Bedingung des Beitritts zur Welthandelsorganisation WTO. Aber der Patentschutz ist härter gefasst als anderswo. Sogenanntes Evergreening ist verboten. So nennt man die leichte Abwandlung eines bestehenden Patents zum Zweck seiner Verlängerung. Zur Not greift man in Indien auch zu drastischen Maßnahmen wie einer Zwangslizenz, wie im Fall Bayer geschehen, also einer Art von Enteignung. Die forschende Pharmaindustrie vermutet hinter den indischen Urteilen auch ein Bollwerk gegen ausländische Pillenkonkurrenz.

Seltene Krankheiten in der Dritten Welt werden kaum erforscht

Ärzte ohne Grenzen hält das Patent-Modell für Arzneimittel für den falschen Weg. Forschung koste, wenn auch nicht so viel, wie die Pharmafirmen behaupteten. Man solle Geldpreise für medizinische Erfindungen ausloben, schlägt Moldenhauer vor. Seltene Krankheiten in der Dritten Welt wie die Schlafkrankheit oder Tuberkulose würden ohnehin kaum erforscht. Pharmafirmen sollten ihre Pillen auch künftig in Indien zur Zulassung anmelden müssen, fordert der Pharmaexperte, denn dann sei das Nachahmen viel einfacher. Den indischen Pharmamarkt hält er für unverzichtbar. Halb Afrika würde seine Aids-Kranken mit Medikamenten aus dem Subkontinent versorgen, die konkurrenzlos billig verkauft würden.

Unterstützung erhält die Pharmaindustrie von unerwarteter Seite. Gerd Antes vom deutschen Cochrane-Zentrum warnt davor, die Unternehmen einseitig zu verdammen. Das ist überraschend, denn Antes gilt als hartnäckiger Pharmakritiker. Immer wieder wirft er der Industrie vor, die unerwünschten und gefährlichen Nebenwirkungen ihrer Produkte zu verheimlichen, statt wirklich alle Studien frei zugänglich zu machen.

"Die Pharmaunternehmen sind als einzige in der Lage, eine relevante Erforschung von neuen Wirkstoffen zu betreiben", betont Antes. Jeder staatliche Versuch, es der Industrie gleich zu tun, sei bislang gescheitert. Deshalb sei es gefährlich, den Unternehmen jeden Anreiz zur Forschung zu nehmen, indem man ihre Patente missachte. "Man muss allerdings zwischen echten Innovationen und Scheininnovationen sorgfältig unterscheiden." Wirkliche Durchbrüche sollten gut bezahlt werden, Scheininnovation nicht. Deshalb müsse die Industrie deutlich besser kontrolliert werden. "Darin versagen die Staaten derzeit."

Das Urteil "verhindert den Tod von Millionen Menschen"

Indiens Kurs treibt auch die deutsche Politik um - mit unterschiedlichen Ergebnissen. So warnt der CDU-Gesundheitspolitiker Jens Spahn: "Indiens Kurs ist gefährlich." Wer keine Patente anerkenne, untergrabe auf Dauer die Bereitschaft zu forschen. "Das schadet am Ende allen, gerade den Ärmsten." Der Grünen-Entwicklungspolitiker Uwe Kekeritz bezeichnete das Urteil hingegen als richtungsweisend: "Es verhindert den Tod von Millionen Menschen." Man müsse darüber diskutieren, wie viel Innovationskraft Patente tatsächlich haben. "Indien ist die Apotheke der Armen. Es ist gut, dass sie nicht durch einen Pharmariesen geschlossen wurde."

Novartis lässt sich nicht in die Ecke eines herzlosen Pharmariesen stecken. Man stelle Glivec 95 Prozent aller Patienten in Indien kostenlos zur Verfügung. 1,7 Milliarden Dollar habe das gekostet. Soziales Engagement sei "ein wichtiges Element der Tätigkeit". Es gehe um die Anerkennung von geistigen Eigentumsrechten in Indien, Nachahmerprodukte seien auch in Ordnung. Kein Wunder, Novartis vermarktet sie selbst unter der Sparte Sandoz.

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SZ vom 03.04.2013/mahu
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