Süddeutsche Zeitung

Paritätischer Wohlfahrtsverband:"Gegen Armut hilft Geld"

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Der Paritätische Wohlfahrtsverband warnt bei Vorlage seines neuen Armutsberichts vor schweren Folgen der Corona-Krise für die Einkommensschwachen.

Von Edeltraud Rattenhuber, München

Der Paritätische Wohlfahrtsverband sieht auf Millionen einkommensschwache Menschen in Deutschland große Härten durch die Corona-Krise zukommen, wenn die Politik die finanziellen Hilfen für sie nicht schnell und dauerhaft aufstocke. Am Freitag legte der Verband seinen neuen Armutsbericht vor. Dessen Befunde nennt er alarmierend. So habe die Armutsquote in Deutschland 2019 um 0,4 Prozentpunkte auf 15,9 Prozent (13,2 Millionen Menschen) zugenommen und damit schon vor der Corona-Krise einen neuen Rekord und den höchsten Wert seit der Wiedervereinigung erreicht.

Alles deute darauf hin, dass die Auswirkungen der Krise Armut und soziale Ungleichheit noch einmal spürbar verschärfen würden, warnt der Verband. Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider wirft der Bundesregierung eine "armutspolitische Verweigerungshaltung" vor und fordert unter der Überschrift "Gegen Armut hilft Geld" eine sofortige Anhebung der finanziellen Unterstützungsleistungen für arme Menschen sowie Reformen der Sozialversicherungen. Mit einer Anhebung der Hartz-IV-Sätze auf 644 Euro statt der beschlossenen 446 Euro monatlich "wäre die Einkommensarmut praktisch beseitigt", so Schneider.

In der Corona-Krise habe die Bundesregierung zwar einerseits schnell und in vielen Punkten auch richtig gehandelt, zum Beispiel beim Kurzarbeitergeld oder bei den Hilfen für Soloselbständige. Kein Verständnis bringe man aber dafür auf, dass "in dem größten Konjunkturpaket, das in der Bundesrepublik je geschnürt wurde, kein Cent für die Armen zu finden war". Stattdessen seien 20 Milliarden Euro für eine von Anfang an zweifelhafte Absenkung der Mehrwertsteuer sprichwörtlich verpulvert worden, kritisierte Schneider.

Kritik am relativem Armutsbegriff kontert der Verband. Er wolle die Probleme hinter den geringen Einkommen realistisch beschreiben, nicht "euphemistisch"

In seinem Bericht sieht der Paritätische Wohlfahrtsverband jede Person als arm, die mit ihrem Einkommen bei weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt. Die Argumentation mit dieser relativen Einkommensarmut steht bei Wirtschaftsforschern in der Kritik, sie verwenden eher den Begriff der "Armutsgefährdung". Der Wohlfahrtsverband sieht die 60-Prozent-Schwelle aber als "sehr guten" Indikator, um Armut methodisch zu definieren und messbar zu machen. Angesichts der Einkommen, um die es konkret gehe, und der sich dahinter verbergenden massiven Probleme sei der Begriff "Armutsgefährdung" eher als "Euphemismus" zu sehen denn als realistische Beschreibung der Verhältnisse.

Schneider kritisierte bei Vorstellung des Berichts die jüngsten Daten des Statistischen Bundesamtes, die im Gegensatz zur Erhebung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes für das vergangene Jahr eine leicht gesunkene Kinderarmut in Deutschland zeigten. "Das ist falsch", sagte Schneider. Die Erhebung EU-Silc, auf die sich das Bundesamt berufe, verwende Zahlen aus dem Jahr 2018, für das auch sein Verband einen leichten Rückgang der Armut konstatiert habe. Die vom Verband verwendeten Zahlen des Mikrozensus für 2019 ergäben jedoch einen erneuten Anstieg der Armutsquote. "Die Hoffnung auf eine Trendwende hat sich zerschlagen", so Schneider.

Der Hauptgeschäftsführer beschreibt Deutschland 2019 im Licht der vorliegenden Daten "als ein in wachsender Ungleichheit tief zerrissenes Land". Immer mehr Menschen lebten ausgegrenzt und in Armut, weil es ihnen an ausreichendem Einkommen fehle, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe sei diesen Menschen nicht möglich, volkswirtschaftliche Erfolge kämen seit Jahren nicht bei ihnen an.

Das höchste Armutsrisiko hätten Arbeitslose, Alleinerziehende, kinderreiche Familien, Menschen mit niedriger Qualifikation und Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Sie träfen auf ein soziales Sicherungssystem, das nicht vor Armut schütze und dessen Schwächen in der Corona-Krise noch deutlicher zutage träten. "Corona hat jahrelang verharmloste und verdrängte Probleme, von der Wohnraumversorgung einkommensschwacher Haushalte bis hin zur Bildungssegregation armer Kinder, ans Licht gezerrt", so Schneider.

Der Wiederanstieg der Armutsquote 2019 sei praktisch flächendeckend, mit den Spitzenreitern Bremen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin. Eine "alarmierende Dynamik" sieht Schneider in Nordrhein-Westfalen. Fast jeder fünfte Einwohner (18,5 Prozent) dieses bevölkerungsreichsten Bundeslandes zähle zu den Armen. Das Ruhrgebiet sei gar "die Problemregion Nummer eins in Deutschland" mit einer Armutsquote von 21,4 Prozent.

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