Paketservice:Die Last mit der Last

Vorweihnachts-Hochbetrieb beim Post-Paketdienst

Online-Bestellung und Lieferung per Paketdienst werden immer beliebter (Archivbild)

(Foto: dpa)
  • Immer mehr Kunden bestellen online und lassen sich die Produkte per Paketdienst liefern.
  • Die Branche boomt, der Bedarf an Paketboten geht damit einher.

Report von Korbinian Eisenberger, Berlin

Die Kisten sind mit einem Gurt festgezurrt, sechs Tragerl mit verschiedenen Säften in Glasflaschen. Zwischen dem Mann mit der Kappe und dem Kunden, der gerne Saft trinkt, erstreckt sich ein Treppenhaus über vier Stockwerke. Einen Aufzug gibt es nicht, der Mann mit der Kappe runzelt die Stirn. Er hatte schon entspanntere Liefertermine an diesem Nachmittag. Einmal kurz durchatmen, dann nimmt er die erste Stufe.

Vielleicht hilft es, den Kunden als König zu verstehen, wenn man unten steht mit den schweren Kisten. Manchmal kommen solche Gedankenspiele schon auf, sagt Batur Vubaa, 45, der Mann mit der Dienstmütze und der Pullover-Aufschrift "Doorstep Delivery - no need to be around". Vubaa ist etwa 1,60 Meter groß, drahtig, fast schmächtig, nicht unbedingt der Prototyp eines Lastenschleppers. Es ist Mittwoch in Berlin-Mitte, kurz nach 14 Uhr, und Vubaa lässt gerade den Motor seines Kleinlasters an. Von sieben bis zwölf hat er die ersten Pakete und Getränkekisten ausgeliefert, jetzt muss er eine zweite Route abfahren, so wie eigentlich schon seit Wochen. "Es werden jeden Tag mehr Bestellungen", sagt Vubaa, der seit Sommer für das Liefer-Start-up Lockbox arbeitet. Am Anfang war es noch ein Nebenjob, mittlerweile fährt er täglich zehn bis zwölf Stunden quer durch Berlin. "Eigentlich", sagt Vubaa, "bräuchte ich längst einen größeren Wagen."

Wie hier in Berlin sieht man sie in größeren Städten mittlerweile fast schon zu jeder Tages- und Nachtzeit stehen, meist in der zweiten Reihe oder auf dem Bürgersteig, mit offener Lade: Lieferwagen sind Teil des Stadtbilds geworden, die Bestellung per Mausklick gehört zum Alltag wie der Gang zum Supermarkt. Die Lieferung hat den Vorteil, dass den Transport ein anderer übernimmt. Wie eine Kiste Mineralwasser in die Wohnung gelangt, ist uninteressant, solange sie rechtzeitig und unbeschadet beim Empfänger ankommt. Genau das war jedoch bisher der Haken, an dem das System angreifbar wurde: Die Lieferung kommt an, doch der Besteller ist nicht zu Hause. Genau an dieser Stelle kommt Batur Vubaa ins Spiel.

Das Modell Lockbox hat noch seine Tücken

Die Firma, für die der gebürtige Mongole ausliefert, hat sich eine Marktlücke zunutze gemacht. Wer sich auf der Webseite von Lockbox anmeldet, erhält Postpakete, Getränkebestellungen oder Amazon-Kartons fortan in einer verriegelten Plastikbox vor die Wohnungstür gestellt. Die Kisten werden per Metallseil mit einem Anker verbunden, der unter der Türschwelle verkeilt ist. Nur der Besteller hat so Zugang zu seiner Bestellung, oder jemand, der sich mit Stemmeisen und Flex gewaltsam daran zu schaffen macht. Allerdings wird Lockbox fast ausschließlich in Mehrparteienhäusern genutzt, von der Plastikkiste vor der Tür bekommen also nur die direkten Nachbarn mit. Seit der ersten Lieferung vor zwei Jahren hat Lockbox noch keinen Diebstahl verzeichnet. Wohl auch deshalb boomt das Geschäft: Mittlerweile liefert Lockbox nicht mehr nur in Berlin, sondern auch in Hamburg, Freiburg, Düsseldorf, Köln und Bonn Kunden - demnächst auch in München.

15 Uhr, ein Hochhaus im Berliner Osten, elf Stockwerke, 33 Klingelschilder, es geht um zwei Kisten oberbayerisches Bier: Vubaa hat die Hälfte der Knöpfe gedrückt, als sich eine Stimme im Lautsprecher meldet. "Wer sind Sie?" - "Eine Lieferung für Pauli." - "Dann klingeln Sie doch bei Pauli." - "Da ist keiner zu Hause." - "Dann können Sie doch auch nichts liefern." Gespräche wie diese führt Vubaa täglich. "Viele verstehen nicht, dass ich nur ins Treppenhaus muss", sagt er. Nach fünf Minuten hat er fast alle Knöpfe durch. Da summt die Tür.

Das Modell Lockbox hat noch seine Tücken, nicht immer funktioniert alles reibungslos. Dennoch wird die Nachfrage immer größer - nicht nur bei der Firma Lockbox, die erst kürzlich ein zweites Warenlager anmieten musste. Längst haben auch andere Anbieter Strategien entwickelt, um dem Kunden den Paketempfang möglichst bequem zu machen. Die Firma PakSafe etwa bietet ein ähnliches Modell an, hier schließt der Bote die Lieferung in eine schnittfeste Stofftasche ein, die außen an der Wohnungstür befestigt ist - der Verschluss wird durch einen elektronischen Pin geöffnet. Etwas anders geht es Amazon Deutschland an, der Händler bietet seit Kurzem an, Pakete direkt ins Auto zu liefern. Der Postbote erhält für jede Lieferung einen einmaligen Zugangscode, um den Kofferraum zu öffnen.

Die E-Commerce-Branche wächst, das zeigen auch die Zahlen. Im Vergleich zum Vorjahr stiegen die Lebensmittel-Lieferungen im dritten Quartal 2015 von 190 auf 290 Millionen Euro. Der Onlinehandel insgesamt kletterte von 9,8 Milliarden auf 11,3 Milliarden Euro. "In fünf bis zehn Jahren wird Zustellung und Abholung das normale Einkaufen für einen Großteil der Bevölkerung ersetzen", sagt Christoph Wenk-Fischer, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands für E-Commerce und Versandhandel Deutschland (bevh), wo die Zahlen ermittelt werden. Wenk-Fischer prognostiziert, dass künftig immer mehr Lebensbereiche von den Lieferdiensten abgedeckt werden, Firmen wie Lockbox hätten dann eine zentrale Rolle im System. "Supermarktketten werden sich zusammenschließen", sagt Wenk-Fischer. "Sie müssen gemeinsame Modelle entwickeln, wie sie ihre Ware zum Kunden bringen."

Und auch die Städte werden sich verändern, glaubt er. Denkbar seien flächendeckende Lieferzonen und immer mehr standardisierte Wohnungseinrichtungen. Etwa, damit ein Lieferant bei einem Stopp gleich in mehreren Wohnungen den Pulvertank für Waschmaschinen auffüllen kann. "Es reicht nicht, dass es für den Kunden bequem ist", sagt Wenk-Fischer. "Für die Anbieter muss es auch effizient sein."

Viele Lieferanten sind Einwanderer. Sie sind froh über jeden Job

Vubaa ist seit vier Stunden unterwegs, im Stadtteil Wedding warten fünf Kunden auf ihre Lieferung - für Lockbox-Verhältnisse ist das derzeit noch relativ viel. Das Haus kenne er schon, sagt Vubaa, der jetzt mit einer blauen Kiste die Treppenstufen hinaufstapft. Oben macht ihm Kristin Brechler auf. Sie packt ihr bestelltes Biogemüse gleich aus und bedankt sich. 3,80 Euro ist der Aufschlag, den sie für Vubaas Lieferung bezahlt hat. "Ich bin froh, dass ich die Kisten jetzt nicht mehr hochschleppen muss", sagt sie. Neben ihrem Studium und der Arbeit als Physiotherapeutin sei das eine willkommene Entlastung. Als die Tür wieder ins Schloss fällt, muss Vubaa grinsen. "Gut, dass es die Physios gibt", sagt er, "vom vielen Kistenschleppen tut nämlich mein Rücken weh."

So praktisch das System für Kunden ist, für die Boten ist es hart verdientes Geld. In aller Regel sind die Männer und Frauen Freiberufler, bis vor Kurzem arbeiteten viele für fünf Euro brutto die Stunde. Seit der Einführung des Mindestlohns Anfang des Jahres müssen jedoch auch Lieferanten 8,50 Euro Stundenlohn bekommen. Seitdem kommen Firmenchefs auf die skurrilsten Ideen, um das Gesetz zu umgehen, etwa Klauseln, dass mit der Vergütung Überstunden und der Anspruch auf bezahlten Urlaub abgegolten sind. Nach wie vor basiert das System der Lieferdienste auf Einwanderern wie Vubaa, von denen viele die Not zwingt, zweifelhafte Verträge zu unterschreiben.

53 Prozent

beträgt der Anstieg des Umsatzes mit Lebensmitteln, die im dritten Quartal bundesweit geliefert wurden. Von Juli bis September 2014 waren es noch 190 Millionen Euro - 2015 wurden bereits 290 Millionen Euro umgesetzt. Insgesamt machen Lebensmittel wegen der niedrigen Preise nur ein Prozent des Gesamtumsatzes im Online-Versand aus, bei der Zahl der Lieferfahrten dürfte der Anteil deutlich höher sein.

Eigentlich ist Vubaa Maschinenbau-Ingenieur, sein Studium hat er in Hamburg abgeschlossen. Er spricht fast akzentfrei Deutsch, seit er vor drei Jahren auswanderte, vermittelt er mongolische Industriefirmen an deutsche Hersteller. Weil die Aufträge nicht reichen, heuerte er bei Lockbox an. "Ich mache diesen Job, damit meine Tochter hier aufs Gymnasium gehen kann", sagt er. Lockbox zahle ihm sogar etwas mehr als den Mindestlohn.

1,50 Euro Trinkgeld für ein Tagwerk

"Wir entlohnen besser als viele andere", sagt Firmengründer Thomas Kraker von Schwarzenfeld. Er stellt sein Modell als fair und nachhaltig dar. "Wir packen die Waren in wiederverwendbare Thermobehälter", sagt er, "das spart Kühlelemente und Verpackung." Lockbox gibt sich also kunden-, umwelt- und mitarbeiter-freundlich. Welchen Lohn er seinen etwa ein Dutzend Fahrern tatsächlich bezahlt, will Schwarzenfeld allerdings nicht öffentlich machen.

Über Berlin ist es dunkel geworden, 19 Uhr, Vubaas vorletzter Auftrag: Mit einer Art Handgabelstapler hievt er die sechs Saftkisten jetzt Stufe für Stufe nach oben. Im vierten Stock wartet ein schwarz gekleideter Mann in gedämpftem Licht. Für Christopher Stein ist es die erste Bestellung bei Lockbox. Vubaa hat den 40-Jährigen an der Hand genommen und tastet mit ihm das Verschlusssystem ab. Sehen könne er von all dem nichts, sagt Stein, im Gang hat er seinen Blindenstock stehen.

Batur Vubaa hat sich eine Zigarette angezündet. Sechs Stunden hat er für elf Lieferungen gebraucht, 50 Kilometer ist er gefahren. Der letzte Kunde hat ihm noch 1,50 Euro zugesteckt, sein Trinkgeld für ein Tagwerk. "Es war ein guter Tag", sagt Vubaa, dann macht er seine Zigarette aus und fährt hinaus in die Nacht.

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