Alexander Birken fühlt sich ein bisschen so wie damals vor gut zwei Jahren, als die Covid-Pandemie in Deutschland ausbrach und keiner genau wusste, wie es weitergeht. "Die Unsicherheiten sind heute wieder so groß wie zu Beginn der Corona-Krise", sagte der Vorstandschef der Otto Group, als er die Bilanz präsentiert. Damals war für Otto alles gut gegangen. Der Konzern erzielte auch im zweiten Corona-Jahr eines der besten Geschäftsjahre der Firmengeschichte, vor allem dank des Online-Booms. Nun aber scheint der große Hype vorbei zu sein, auch weil die Ladengeschäfte wieder geöffnet haben.
Das Ende Februar abgelaufene Geschäftsjahr stand aber noch voll im Zeichen des E-Commerce. Die Online-Umsätze stiegen zweistellig auf weltweit gut zwölf Milliarden Euro. Acht Milliarden Euro davon entfielen auf Deutschland, wo die Otto Group mit Marken wie Bonprix, About You oder Manufactum bekannt ist. In den USA und Kanada wuchs der Einrichtungshändler Crate & Barrel stark.
Doch Ende Februar lief nicht nur das Geschäftsjahr aus, Ende Februar griff auch Russland die Ukraine an. Seitdem herrscht Krieg in Europa, ein Krieg, den Birken "abscheulich" nennt. Ein Krieg auch, der für den größten deutschen Versandhändler vieles ändert wie zum Beispiel den Ausblick auf das laufende Geschäftsjahr. "Wir steuern auf Sicht", sagt Birken. Ein Satz, den zu Beginn der Covid-Krise viele verwendeten, um mangelnde Planbarkeit auszudrücken.
Dabei gibt sich Birken hin und her gerissen. Einerseits sei er "außerordentlich optimistisch", weil sich auch Chancen ergäben. Andererseits rechnet er mit "deutlich geminderter Ertragsstärke". Ganz so riesig wie im vergangenen Jahr, als das Ergebnis vor Steuern auf gut 1,8 Milliarden Euro stieg, wird der Gewinn im laufenden Jahr aber wohl nicht ausfallen. Dazu seien die Kostensteigerungen bei Papier, Energie, Holz und Rostoffen allgemein zu groß. "Die Kostensteigerungen werden wir nicht komplett kompensieren können", sagte der Konzernchef.
Schnelle Belieferung vom neuen Werk in Polen aus nach Deutschland
Der Unsicherheit begegnen will die Unternehmensgruppe mit Investitionen in Technologie, Logistik und einem neuen Geschäftsfeld. So seien wesentliche Mittel in den Aufbau einer eigenen E-Commerce-Plattform und einer IT-Infrastruktur geflossen. Zudem werde ein eigener Payment-Dienstleister geschaffen, um Kundinnen und Kunden sowie Marktplatzpartnern auf Otto.de künftig Rechnungen aus einer Hand anbieten zu können. In der Logistik hat der Konzern am Standort in Hamburg Arbeitsplätze abgebaut und ist nun dabei, ein neues Logistikzentrum im Westen Polens aufzubauen. Von dort aus sollen auch Kundinnen und Kunden in Deutschland beliefert werden.
Betreiber ist die Konzerntochter Hermes Fulfillment, die in Polen Bestellungen für Otto.de und Mytoys schneller abwickeln soll. Eine Belieferung am nächsten Tag ist das Ziel. Der bisherige Mytoys-Logistikstandort im hessischen Gernsheim soll im laufenden Betrieb erweitert und umgebaut werden. Bei Mytoys war die Umsatzentwicklung zuletzt eher enttäuschend verlaufen. An den Investitionen hält die Otto Group trotz des schwächer wachsenden Onlinehandels fest.
Besonders große Wachstumschancen sehen Birken und Finanzchefin Petra Scharner-Wolff in der Telemedizin. Die Regierungskoalition in Berlin plane im Bereich Digital Health Vereinfachungen. Im Moment herrsche hier laut Birken noch "zu viel Regulatorik". Im Koalitionsvertrag der Ampelregierung sei aber festgeschrieben, die Telemedizin voranzutreiben. So solle etwa das E-Rezept kommen.
Bei der Otto-Beteiligung Better Doc können Kunden die Zweitmeinung eines Arztes einholen
Mit einem Anteil von 66 Prozent beteiligte sich die Otto Group vor Kurzem bereits an dem Schweizer Digital-Health-Dienstleister Medgate, der über 200 eigene Ärzte verfüge, wie Birken sagte. Der Konzern erweitert damit seine Geschäftsfelder gezielt um einen weiteren strategischen Bereich. Zu Medgate gehört der deutsche Facharzt-Makler Better Doc. Das Kölner Tech-Unternehmen hat ein System zur Vermittlung von Fachärzten entwickelt, das auf eine Kombination aus menschlicher und maschineller Intelligenz setzt. Die Firma sieht sich bei der Suche und Vermittlung von hoch spezialisierten Ärzten als europäischer Marktführer. Zunächst solle es laut Birken mithilfe von Better Doc darum gehen, "die Zweitmeinung eines Arztes" einholen zu können.
Birken hält den Gesundheitssektor im eigenen Konzern für weiter ausbaufähig. Er sehe keine großen Übernahmen in Bereichen wie dem Einzelhandel, sondern wolle "eher bei Digital Health dazukaufen". Birken sieht durchaus Synergien zwischen den einzelnen Geschäftsfeldern im Konzern. "Wir haben den Zugang zu einem vertrauensvollen Millionenpublikum", sagte Birken und gab zu verstehen, dass dies auch potenzielle Kunden für die Telemedizin umfasst.
Viele Unternehmen haben den Bereich Digital Health als aussichtsreiches Investitionsfeld identifiziert. Der Nivea-Hersteller Beiersdorf etwa stieg bei Dermanostic ein, dem Anbieter einer App für dermatologische Diagnosen. Und die Parfümeriekette Douglas kaufte eine niederländischen Online-Apotheke. Einer Studie der Unternehmensberatung Roland Berger zufolge hat der Digital-Health-Markt in Europa ein Volumen von 240 Milliarden Euro und in Deutschland von 59 Milliarden Euro. Die Otto Group will einen Teil davon abhaben, damit sie auch die nächste Krise gut übersteht.