Onlinehandel:Teure Schlupflöcher

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Hermes Logistik-Center am Flughafen Leipzig. Der Paketdienstleister ist offen für Kooperationen. (Foto: Jan Woitas/dpa)

Für Finanzämter ist es kaum möglich den internationalen Versandhandel zu besteuern. Der Verlust für den Staat ist immens. Mit Reformen soll nun alles besser werden. Doch Experten haben Zweifel.

Von Max Müller, Berlin

Es sind nur ein paar Klicks. Waren aus aller Welt zu bestellen, ist kinderleicht. Doch das hat immense Auswirkungen, beeinflusst Arbeitsbedingungen in Produktionsländern, schafft multinationale Großkonzerne. Der globale Warenhandel ist auch für die Finanzämter dieser Welt eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Ihnen gehen jährlich Milliarden an Steuereinnahmen verloren, weil zu wenig oder keine Umsatzsteuern gezahlt werden. Durch das vor einigen Wochen vom Kabinett beschlossene Jahressteuergesetz soll sich das ändern.

Kernstück ist ein gemeinsames Abrechnungssystem für Mehrwertsteuern in der Europäischen Union (EU). Bisher mussten Händler, die Produkte an Privatkunden verkaufen, eine Steuererklärung in jedem EU-Land machen. Dabei gelten unterschiedliche Schwellenwerte, in der Regel 35 000 Euro. Das soll durch den sogenannten "One-Stop-Shop" vereinfacht werden. Die Idee: über die zentrale Steuerbehörde speist ein Händler seine Daten ein, die Mehrwertsteuer wird abgeführt und in die entsprechenden Länder transferiert. Klingt einfach, hat aber eine ganz große Schwachstelle, finden Experten.

Denn die eigentliche Aufgabe für Online Händler bleibt bestehen: sie müssen genau die verschiedenen Steuergesetze in der EU kennen. Wenn ein Kunde in Deutschland Binden oder Tampons von einem spanischen Händler bestellt, muss der spanische Verkäufer wissen, dass Monatshygiene in Deutschland mit dem ermäßigten Satz von sieben Prozent (aktuell fünf Prozent) besteuert wird. In Belgien liegt dieser bei sechs Prozent, in Bulgarien und Dänemark ist hingegen der volle Steuersatz von 20 beziehungsweise 25 Prozent fällig.

Schwer durchschaubar: Jedes EU-Land hat seine eigenen Steuergesetze

Solche Beispiele legen die Fallstricke der unterschiedlichen Steuergesetze offen. So unterliegen Kinderschuhe einem ermäßigten Steuersatz. Doch was ist ein Kinderschuh? In Luxemburg darf das Kind maximal 14 Jahre alt sein, in Irland ist eine Schuhgröße bis 38 entscheidend. "Im Prinzip muss man als Händler, der EU-weit Waren vertreibt, Steuerexperte für jedes Land sein", sagt Nathalie Harksen, Rechtsanwältin für Umsatzsteuer- und Zollrecht.

Wie groß das Steueraufkommen ist, das innereuropäisch nicht abgeführt wird, kann niemand sagen. In vielen Fällen ist es nicht kriminelle Energie, sondern eher Unwissenheit und Schlampigkeit, die Staaten Geld kosten. Daran werde auch ein vereinfachtes Abrechnungssystem nichts ändern, kritisiert Roger Gothmann von "Taxdoo", einer Compliance-Plattform für digitale Ökonomie: "Die technische Vereinfachung läuft für viele Onlinehändler ins Leere, da sie die Anforderungen des modernen Onlinehandels nicht mehr vollständig erfüllen kann." Die Sache wird noch komplizierter, wenn Waren aus sogenannten Drittstaaten bestellt werden. Dann geht es um Produkte, die vor allem von chinesischen Händlern nach Deutschland versendet werden - und für die Umsatzsteuer in Deutschland gezahlt werden muss.

Mark Steier war lange Jahre selbst Ebay-Händler und betreibt nun einen Blog, in dem er auch die schwierige Situation bei der Umsatzsteuer aufgreift. Er hat anhand der Daten verschiedener Marktplatzbetreiber wie Ebay oder Amazon, mit Zahlen der Post und der chinesischen Handelsstatistik für das Jahr 2015 überschlagen, wie groß der Verlust ist, der durch nicht gezahlte Umsatzsteuern aus China entsteht. Die Zahl muss nach seinen Berechnungen zwischen 500 Millionen Euro und 1 Milliarde Euro liegen. Zum Vergleich: In Deutschland werden pro Jahr 175 Milliarden Umsatzsteuern gezahlt. "Angesichts dieser Vergleichsgröße könnte die Zahl mittlerweile höher sein, wenn man bedenkt, dass das Handelsvolumen stetig steigt", sagt Rechtsanwältin Harksen. Der Europäische Rechnungshof geht von fünf Milliarden Euro Verlust für die gesamte EU aus.

Der Kontrollmöglichkeiten in Drittstaaten sind wesentlich beschränkter, es gibt kein entsprechendes Amtshilfeabkommen mit China. Doch wer kontrolliert, ob Umsatzsteuern korrekt bezahlt werden? Lange lautete die Antwort: niemand. Aus diesem Grund nimmt die Bundesregierung seit 2019 die Marktplätze stärker in die Verantwortung. Seitdem verlangen Amazon und Co. von ihren Händlern, sich eine deutsche Steuernummer zu beschaffen. Bei Nichtbeachtung werde Verkaufspartnern die Verkaufsberechtigung entzogen, sagt ein Amazon Sprecher.

Große Händler wie Amazon und Ebay werden künftig stärker in die Pflicht genommen

Die Zahl der gemeldeten Händler, die eine sogenannte 22f-Bescheinigung haben, ist gestiegen. "Doch das Steueraufkommen steigt nicht in dem Maße wie die Zahl der registrierten Händler zunimmt", sagt Gothmann. "Zwangsläufig bedeutet das: Chinesische Händler zahlen immer noch viel zu wenig Umsatzsteuern."

Das Finanzamt in Berlin-Neukölln ist zuständig für Waren aus China. Gothmann berichtet von chaotischen Zuständen: "Es fehlt an Personal, Know-How und technischer Ausstattung." Es gebe in China sogar Schulungen, wie man die Schwäche des Neuköllner Finanzamtes ausnutzen könne. Das Finanzamt bestreitet die Vorwürfe und verweist auf die gestiegene Zahl der registrierten Händler. Jede Woche registrieren sich 600 neue Händler, insgesamt sind es rund 40 000. Zusätzlich ist die Mitarbeiterzahl aufgestockt worden - von 42 auf 81. Das Steueraufkommen beläuft sich bis einschließlich August auf rund 180 Millionen Euro.

Die Lösung des Problems soll ein Teil des nun verabschiedeten Jahressteuergesetzes sein, das zum 1. Juli kommenden Jahres umgesetzt wird. Dann haften Amazon und Co. nicht nur für ihre Händler, sie werden zum Schuldner. "Das bedeutet, sie führen die Umsatzsteuer aus den Verkäufen über den Marktplatz direkt ab", erklärt Harksen. Eine Maßnahme, die tatsächlich die Lösung sein kann, prognostizieren Experten.

Doch was passiert, wenn Verbraucher anfangen, direkt auf chinesischen Plattformen zu bestellen, zum Beispiel bei Alibaba? "Spätestens dann gibt es keine Zugriffsmöglichkeit mehr", sagt Gothmann. Zwingen kann man den chinesischen Konzern nicht.

Noch vertrackter wird die Situation im neuen Jahr. Dann fällt zusätzlich die Freigrenze für die Einfuhrumsatzsteuer weg, die derzeit noch ab einem Warenwert von mindestens 22 Euro anfällt. Eine Grenze, die es für chinesische Händler zu unterbieten gilt. So werden in vielen Fällen, das belegen Stichproben, wesentlich teurere Gegenstände so verpackt, dass es nach einer günstigen Ware aussieht, die nicht mehr als 22 Euro kostet. Die Unmengen an Paketen, deren Warenwert laut Marktplatzexperte Steier bei fünf Milliarden Euro liegen, zu kontrollieren, ist praktisch nicht möglich.

"Die Macht liegt beim Verbraucher. Er entscheidet. Wem wichtig ist, dass Umsatzsteuern korrekt bezahlt werden, sollte bei deutschen Händlern bestellen", sagt der ehemalige Ebay-Händler Steier. Ein Schnäppchen aus China sei nicht nur aus steuerlicher Sicht problematisch. "Immer wieder haben chinesische Produkte Sicherheitsmängel oder sind gefälscht", sagt er.

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