Dass Shein und Temu pünktlich zum Oktoberfest wieder Dirndl verkaufen, na ja, was soll’s. Im vergangenen Jahr hatte Shein, ein ursprünglich chinesischer Online-Händler mit Sitz in Singapur, zu den bierseligen Wochen sogar erstmals einen vorübergehenden Pop-up-Store in München eröffnet. Warum die Dirndl auf der Shein-Plattform jedoch als „Frenchy Kleid“ oder „Frenchy Dirndl“ bezeichnet werden, bleibt das Geheimnis des chinesischen Algorithmus. Frenchy? Bavarian? Egal. Hauptsache, es verkauft sich. Dank datenbasierter Analysen wissen die Händler genau, was wo nachgefragt wird. Diese Nachfrage bedienen sie meist mit irgendwo in China gefertigter Billig-Ware, gelegentlich aber auch mit hochpreisigeren Produkten zu besonderen Anlässen wie dem Oktoberfest oder Weihnachten.
Dass neuerdings auf Shein in Deutschland auch Ware einer weltbekannten deutschen Marke in nennenswertem Umfang verkauft werden, ist noch einmal etwas anderes. Es sind nicht viele Produkte von Adidas, die bei Shein zu haben sind, aber sie gehören zu den erfolgreichsten Klassikern des Sportartikelherstellers aus Herzogenaurach: Adiletten und der Sneakers-Verkaufsschlager „Samba“ in Schwarz. Die Adilette heißt auf Shein auch so, der Samba wird als „Adidas Klassische Stiefel“ angeboten. Dafür ist er relativ günstig, abzüglich weiterer Rabatte, die das Portal bietet.
Der Sportartikelhersteller ist darüber nicht sehr begeistert. „Adidas verkauft selbst keine Produkte auf den Plattformen und erlaubt auch nicht den Weiterverkauf von Produkten auf den Plattformen“, sagt ein Sprecher. Es ist für Adidas, aber auch Nike oder Puma kein neues Phänomen. Dabei tun die Markenhersteller alles, um zu verhindern, dass ihre mit hohem finanziellen Aufwand und bekannten Sport- und Pop-Stars als Testimonials als besonders begehrenswert und wertig inszenierten Schuhe auf Shein oder auch Temu verramscht werden. Adidas verkauft sie dort nicht selbst, sondern Dritthändler bieten sie an. Das zu verhindern, ist schwer bis unmöglich. Denn bis der verantwortliche Händler irgendwo auf der Welt aufgespürt und rechtlich belangt wird, ist die Ware längst verkauft. „Faktisch kann man als Hersteller gegen den Verkauf auf Shein oder Temu kaum etwas tun“, sagt Alexander Graf, E-Commerce-Experte und Gründer der Software-Firma Spryker.
Das gleiche Spiel gab es vor Jahren schon mit Amazon
Im Grunde wiederholt sich gerade, was vor gut zehn Jahren auf Amazon geschah. Auch damals tauchten die ersten Marken auf dem Marktplatz der US-Plattform auf. Die Hersteller versuchten das umgehend zu unterbinden. Sie schickten ganze Teams los, um herauszufinden, von wem die Artikel stammten, die auf einmal auf dem Marktplatz zu kaufen waren. Gleichzeitig fuhren sie den eigenen Online-Direktvertrieb hoch. Nike war ganz vorn mit dabei. Zuletzt verkleinerten viele ihre Teams wieder und gingen ein Stück weit dazu über, die Plattformen eher als Partner betrachten, sagt Graf – wenn sie nicht gerade Shein oder Temu heißen.
Natürlich hätten große Marken kein Interesse, ihre Produkte dort zu zeigen, sagt Experte Graf. Denn die Portale gelten (im Moment noch) als Verkaufskanäle für Billigware. Dort angeboten zu werden, kann dem Image einer Marke schaden. „Aber die meisten Hersteller haben gar nicht die Wahl“, sagt Graf, „ein rein selektives Vertriebsmodell haben nur wenige Marken, oft im Luxusbereich oder in der Nische. Die meisten Marken müssen in Massen verkaufen, um profitabel zu sein. Dafür brauchen sie Händler.“
„Langfristig werden wir fast alle große Marken dort sehen, so wie bei Amazon.“
Exemplarisch war die Entwicklung bei Birkenstock zu beobachten. Erst zog sich Birkenstock medienwirksam von Amazon zurück, heute ist das Angebot dort riesengroß. Schon jetzt ist es so, dass Adidas nicht das einzige prominente Markenprodukt auf Shein ist. Man findet dort auch Ray-Ban-Brillen und Tissot-Uhren. Graf prophezeit: „Langfristig werden wir fast alle große Marken dort sehen, so wie bei Amazon.“
Der Zeitpunkt ist bemerkenswert und möglicherweise kein Zufall. Shein reagierte auf eine Anfrage der SZ nicht. Doch die Plattform steht ebenso wie Temu in diesen Tagen unter großem politischem Druck. Die USA kündigten vor wenigen Tagen an, Billigimporte von Shein und Temu einschränken zu wollen. Strafzölle aus der Amtszeit von Donald Trump sollen auf geringwertige Konsumgüter ausgeweitet werden. Zudem soll die Zollfreigrenze von 800 Dollar fallen, die sogenannte De-minimis-Ausnahme. Bis zu dieser Marke werden Pakete aus dem Ausland in der Regel nicht kontrolliert und verzollt. Überdies stehen Shein und Temu im Verdacht, Nutzerdaten missbrauchen und geistiges Eigentum zu stehlen, indem sie Markenrechte missachten.
Die EU diskutiert ihrerseits darüber, spätestens 2028 die Zollfreigrenze von 150 Euro zu kappen. Deutschland unterstützt das. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat zu dem Thema einen „Aktionsplan E-Commerce“ vorgestellt. Die USA und die EU begründen die Pläne ähnlich: Es würden massenweise gesundheitsgefährdende Produkte importiert. Die US-Verbraucherschutzbehörde sprach sogar von „tödlichen Baby- und Kleinkindprodukten“, die teils durch Zwangsarbeit in China hergestellt werden.
Davor warnt auch die europäische Spielwarenindustrie. „Shein und Temu halten sich an keine Umwelt-, Sozial-, Sicherheits- oder Qualitätsstandards der westlichen Welt, da es niemanden gibt, der sie kontrolliert oder einfordert“, kritisiert Florian Sieber, Chef des größten deutschen Spielwarenherstellers Simba Dickie Group. „Es werden keine aufwändigen Labortests von qualifizierten Prüfstellen gemacht. Es wird kein Zoll gezahlt, da die Sendungen fast ausschließlich unter der Zollfreigrenze von 150 Euro liegen und teilweise falsch deklariert werden, um zollfrei zu bleiben. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass alle Anbieter ordentlich ihre Steuern und Abgaben begleichen, wie wir Mehrwertsteuer oder Verpackungsentsorgungsgebühren.“ Letztlich ein unlauterer Kostenvorteil gegenüber den europäischen Herstellern.
„Das Wachstum von Temu hängt nicht von der De-minimis-Politik ab.“
In der EU sollen schätzungsweise 65 Prozent der etwa zwei Milliarden Päckchen jährlich unterhalb ihres tatsächlichen Werts deklariert werden. Mit dem Wegfall der 150-Euro-Freigrenze würde also auch Steuerbetrug verhindert. Temu reagierte auf Nachfrage selbstbewusst: „Das Wachstum von Temu hängt nicht von der De-minimis-Politik ab“, sagte ein Sprecher. „Wir prüfen die neuen Regulierungsvorschläge und bemühen uns weiterhin, den Verbraucherinnen und Verbrauchern einen spürbaren Mehrwert zu bieten.“
Alexander Graf bezweifelt, dass die geplanten Maßnahmen ernsthaft etwas bewirken können. Die Portale seien mit den geplanten Regeln derzeit jedoch nicht haftbar zu machen und der Zoll überfordert. „Das Plattform-Modell ist so stark, dass es auch ohne die unfairen Vorteile gut funktionieren kann.“