Süddeutsche Zeitung

Online-Versandhändler:Auch deutsche Amazon-Mitarbeiter berichten von Schikane

  • Die Schikanen gegen Mitarbeiter bei Amazon haben offenbar auch in Deutschland System. Das bestätigten ehemalige Mitarbeiter der Süddeutschen Zeitung.
  • Ein Bericht der New York Times hatte für Aufsehen gesorgt. Demnach werden Amazon-Mitarbeiter systematisch überwacht, mit Arbeit überhäuft und dazu angehalten, sich gegenseitig anzuschwärzen.

Von Claus Hulverscheidt und Kathrin Werner, New York, und Detlef Esslinger

Zum Weinen auf die Toilette

Beim weltgrößten Online-Versandhändler Amazon werden Mitarbeiter offenbar auch in Deutschland gezielt schikaniert und unter Druck gesetzt, um sie zu noch mehr Einsatz zu zwingen.

Eine frühere Amazon-Mitarbeiterin sagte der Süddeutschen Zeitung, es sei üblich, dass Chefs ihre Untergebenen anschrien. Zum Weinen gehe man auf Toilette, an Geschluchze aus der Nachbarkabine gewöhne man sich schnell. Auch gebe es eine Art Wettbewerb, wer abends als letzter nach Hause geht und auf Rundmails am Wochenende am schnellsten antwortet.

In den USA sorgt derzeit ein Bericht der New York Times für Aufsehen. Die Zeitung hat mit mehr als 100 Amazon-Insidern gesprochen. Nach ihren Aussagen erwartet die Amazon-Führung zum Beispiel von Angestellten, dass sie E-Mails auch nach Mitternacht beantworten.

Amazon hat auch in Deutschland keinen guten Ruf. So erstellt die Firma in ihren Versandzentren sogenannte Inaktivitätsprotokolle. In einem dieser Protokolle aus dem Jahr 2014, das der SZ vorliegt, wird einem Mitarbeiter vorgeworfen, sich "von 07.27 bis 07.36 Uhr unterhalten" zu haben. Stefanie Nutzenberger, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Verdi, sagte, das System Amazon bestehe auch hierzulande aus "Arbeitshetze und Druck". Davon zeugten extrem hohe Krankenquoten von 20 Prozent und mehr.

Rüder Umgang angeblich von Firmengründer Jeff Bezos angeordnet

Nach Aussagen von Mitarbeitern in den USA handelt es sich bei den Schikanen nicht um Auswüchse, vielmehr soll Firmengründer Jeff Bezos den rüden Umgang persönlich angeordnet haben. Er wird mit den Worten zitiert, zu viel Harmonie im Betrieb schade dem wirtschaftlichen Erfolg, weil selbst offensichtliche Fehlentscheidungen aus falsch verstandener Rücksichtnahme nicht beanstandet würden.

Wie aktuelle und ehemalige Angestellte des US-Konzerns berichten, gilt das zudem nicht nur für die Beschäftigten in den Versandzentren, aus denen in der Vergangenheit immer wieder schwere Missstände berichtet wurden, sondern auch für Verwaltungskräfte. Alle gut 180 000 Mitarbeiter würden überwacht, rund um die Uhr mit Arbeit überhäuft und zudem dazu angehalten, sich bei vermeintlichen Fehlleistungen gegenseitig anzuschwärzen. Manche Mitarbeiter bezahlten Dienstreisen selbst, weil sie sich nicht trauten, sie abzurechnen. Wer gesundheitliche Probleme habe, dem drohe der Rauswurf. Dies sei etwa Beschäftigten passiert, die von einem Krebsleiden erfahren oder eine Fehlgeburt erlitten hätten.

Die Aussagen der Mitarbeiter geben einen Einblick in eine extreme Firmenkultur. Amazon steht dabei nicht stellvertretend für andere junge Internetfirmen, die eher mit bunten Büros und Firmenchefs in T-Shirt und Turnschuhen von sich reden machen. Allerdings sind harte Arbeit und ständige Erreichbarkeit auch in vielen Unternehmen im Silicon Valley üblich. Die Mitarbeiter motiviert das Gefühl, zu den Besten der Besten zu gehören und mit moderner Technik die Welt zu verändern.

Amazon-Chef Bezos, der einer der fünf reichsten Menschen der Welt sein soll, wies den Times-Bericht in einer E-Mail an die Beschäftigten zurück. Das sei "nicht das Amazon, das ich kenne", schrieb er. Er rief die Mitarbeiter auf, Fälle von Schikane Vorgesetzten oder ihm selbst zu melden.

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Quelle:
SZ vom 18.08.2015/cmy
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