Süddeutsche Zeitung

ÖPNV:Pro Gratis-Nahverkehr: Eine überfällige Revolution

Ja, das kostenlose Ticket für den ÖPNV wäre für Staat und Kommunen teuer - doch die Kosten einer autofixierten Verkehrspolitik sind noch viel höher.

Kommentar von Michael Bauchmüller

Niemand käme auf die Idee, für die Nutzung kommunaler Straßen Geld zu verlangen. Sie sind einfach da, finanziert aus Steuergeld. Ein Viertel ihrer Etats stecken deutsche Städte im Durchschnitt in die Verkehrsinfrastruktur. Aber ein kostenloser Nahverkehr? Finanziert aus öffentlichen Mitteln? Der Vorschlag, den die Bundesregierung nun in ihrer Stickoxid-Not nach Brüssel übermittelt hat, klingt wie eine unerhörte Revolution. Dabei geht er genau in die richtige Richtung.

Jahrzehntelang orientierten sich Stadtplaner in diesem Land am Bedürfnis individueller Mobilität. Möglichst reibungslos sollte der Verkehr fließen, Schneisen und Tunnel durch die Städte sorgten dafür. Die Bürger in ihrer Eigenschaft als Konsumenten dankten es mit immer mehr Autos. Knapp 46 Millionen Autos kurven mittlerweile auf deutschen Straßen, zuletzt kamen jedes Jahr rund 500 000 dazu. Das alles hinterlässt nicht nur Spuren im Stadtbild, es sorgt auch für schlechte Luft und Lärm. Wer daran etwas ändern will, muss die Alternative stärken: den öffentlichen Nahverkehr.

In vielen Städten sind Busse und Bahnen nicht nur schlecht getaktet, sie sind schlicht zu teuer. In dem Bestreben, möglichst hohe Deckungsbeiträge zu erwirtschaften, erhöhen Verkehrsverbünde Jahr um Jahr die Preise. Je nach Strecke sind die Öffentlichen damit häufig nicht mehr wettbewerbsfähig. Kostenlose oder stark verbilligte Tickets könnten das ändern. Erste Verbünde experimentieren mit Monatskarten, mit denen Fahrkarten kostenlos werden, wenn man eine bestimmte Kilometerzahl in Bus oder Bahn zurückgelegt hat. All das macht auch jene wieder mobil, die sich den öffentlichen Nahverkehr nicht mehr leisten können. Und das Auto erst recht nicht.

Das kostet Geld, klar. Es kostet auch mehr als jene gut zwölf Milliarden Euro, auf die Deutschlands Nahverkehrs-Firmen an Einnahmen verzichten müssten. Ein kostenloses Angebot lockt mehr Kunden, und das verlangt nach mehr Bussen und mehr Bahnen, einem dichteren Takt. Eben alles, was einen guten öffentlichen Nahverkehr ausmacht.

Die Forderungen der Autoindustrie sind Relikt einer Verkehrspolitik von gestern

Das allein wird nicht reichen, es ist nur der Anfang. Städte müssen nach und nach Fahrspuren abbauen oder für den Radverkehr umwidmen. Und ja: Auch die Ausweitung von Tempo-30-Zonen gehört dazu, selbst auf Hauptverkehrsstraßen. Der Lohn sind Städte, in denen es sich besser leben lässt; mit weniger Lärm und besserer Luft für alle. Und für viele staugeplagte Autofahrer auch mit weniger Stress.

In der Debatte um überhöhte Stickoxid-Werte hat sich die deutsche Autoindustrie unter anderem mit dem Vorschlag hervorgetan, der Verkehr müsse flüssiger werden. Könnten Autos deutsche Innenstädte rascher durchqueren, hinterließen sie auch weniger Schadstoffe. Die Forderung allein spricht Bände, sie ist das Relikt einer Verkehrspolitik von gestern. In Wahrheit steht die Revolution schon vor der Tür. Smartphones machen es einfacher, verschiedene Verkehrsmittel miteinander zu kombinieren, Leihfahrräder erobern Innenstädte. Das erlaubt es, mit öffentlichen Verkehrsmitteln auch individuell zu planen. Es fehlt nur noch die Bereitschaft, entschieden in diese Alternative zu investieren. Und dazu gehören Fahrten, die nichts mehr kosten.

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Quelle:
SZ vom 15.02.2018
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