Süddeutsche Zeitung

ÖPNV per Abruf:Ein Bus, wo keiner fährt

Wer auf dem Land mobil sein will, nimmt das Auto. In Freyung im Bayerischen Wald versuchen sie, das zu ändern.

Von Maximilian Gerl, Freyung

Die Fußgänger hier brauchen Kondition. Die Wege führen mitunter steil hinauf, am Rand türmen sich Schneeberge, Folgen des Wintereinbruchs. Der Haufen vor dem Rathaus ist meterhoch. Nebenan im Kurhaus wartet Markus Linkenheil auf den Bus, man könnte sagen: seinen Bus. "Viele sperren sich von Grund auf", sagt er, "die haben ihr Auto, die würden niemals in eine Buslinie steigen", sagt er. Bleiben genug andere. Für die arbeitet Linkenheil. Geht es nach ihm, sollen auch Menschen ohne Auto den Berg hinaufkommen, die nicht genug Kondition haben, sich durch den Schnee zu kämpfen.

Willkommen in Freyung, östlichstes Ostbayern. 7224 Einwohner, Berge, Wiesen, Bayerwald, vermeintlich Provinz. Tatsächlich läuft in Freyung ein Experiment. Hier wird seit einem halben Jahr getestet, ob und wie die Mobilität der Zukunft auf dem Land funktioniert. Denn neue Ideen sind nötig, wenn es dort lebenswert bleiben soll. Freyungs Versuch heißt "Freyfahrt": ein Mix aus Rufbus und Ridesharing, Bedarfsbedienung und Linienverkehr.

Linkenheil ist so etwas wie der Versuchsleiter. Eigentlich kümmert sich der 33-Jährige im Rathaus um Klimafragen. Doch die Verwaltung ist klein. Und ÖPNV und Klimaschutz passen gut zusammen. "Der Nahverkehr im ländlichen Raum ist, sagen wir mal, suboptimal ausgebaut", sagt Linkenheil. Freyung ist da keine Ausnahme. Die Ortsmitte ist recht kompakt, die übrigen Teile liegen verstreut in der Hügellandschaft. Ein paar Linienbusse pendeln herum und in einer Stunde nach Passau. Auf der Schiene geht seit der Stilllegung der Ilztalbahn 1982 nichts voran. Wer kann, fährt Auto. In Niederbayern ist der Führerscheinerwerb immer noch das Ticket Richtung Freiheit. Heißt im Umkehrschluss: Wer zu alt, zu jung, zu krank oder zu arm fürs eigene Auto ist, hat Pech gehabt.

Bei "Freyfahrt" sollen die Leute gemeinsam Kleinbus fahren. Der kann per Anruf bestellt werden oder Smartphone-App: auf einer Karte Start und Ziel definieren, zur virtuellen Haltestelle gehen, warten. Mehr als 230 Stopps sind hinterlegt. Einer sei immer "um die Ecke", sagt Linkenheil - das macht den Bus offiziell zum Linienverkehr. Er fährt unter der Woche und samstags, meist am Vormittag und nur im Stadtgebiet. "Ein 24-Stunden-Betrieb wäre nicht finanzierbar."

Jede Fahrt kostet 2,90 Euro. Bezahlt wird per App oder bar beim Fahrer. Ein Algorithmus sucht im Hintergrund nach der effizienteste Route, damit alle Passagiere schnell an ihr Ziel kommen. Soweit die Theorie. Praktisch fahren täglich drei, vier Gäste mit. Für den Algorithmus macht das die Sache oft einfach: Wo nur eine Person fährt, sind keine komplizierten Routenberechnungen nötig. Oder der Bus steht gleich leer auf dem Hof eines örtlichen Fuhrunternehmens. Das monatliche Defizit der Stadt liegt trotzdem nur bei 600 bis 700 Euro, dank einer Förderung des Freistaats. "Ein Nahverkehr wird immer ein Defizit haben", sagt Linkenheil.

Es gibt viele Landgemeinden, doch nur wenige können ein innovatives Mobilitätskonzept vorweisen. Es ist eben schwierig, Alternativen zu schaffen, die sich wirtschaftlich trotz weniger Nutzer rentieren, und sei es auch nur halbwegs. Das badische Bruchsal startete 2016 "Zeozweifrei unterwegs", ein Carsharing von E-Autos. Damit sich das lohnt, wird ein Teil des Fuhrparks werktags von Firmen genutzt.

Ein anderes Problem ist die Macht der Gewohnheit. In Göppingen bei Stuttgart wurde versucht, in einem Neubaugebiet Carsharing zu etablieren. Carolin Herdtle vom Städtebau-Institut der Uni Stuttgart wertet das derzeit aus. "Die Menschen entscheiden nicht jeden Tag aufs Neue, was sie nutzen", sagt sie. Mobilitätsroutinen seien schwer zu brechen. Damit neue Möglichkeiten genutzt würden, müssten sie zumindest anfangs kostenfrei sein. Erst Angebot, dann Nachfrage. Auf dem Land seien zudem Systeme ideal, die sich gemeindeübergreifend nutzen ließen.

Es geht nicht darum, Autos zu ersetzen, sondern sie zu ergänzen

Hinter der Technik von "Freyfahrt" steckt Door2Door. Das Berliner Unternehmen suchte eine Landgemeinde für ein Modellvorhaben, auch um selbst dazuzulernen. Beim Thema Mobilität würde vor allem auf Städte geschaut, sagt Sprecherin Katja Diehl. "Dabei herrscht auf dem Land ein ganz anderer Bedarf." Es gehe nicht darum, das Auto zu ersetzen, sondern eine Ergänzung zu schaffen. "On-Demand halten wir da für einen wichtigen Baustein." Ähnlich äußert sich Markus Linkenheil in Freyung: "Wir sehen uns als Zubringer." Für mehr Fahrgäste setzt er auf mehr Werbung - und ein ausgeweitetes Angebot. So wäre eine Station im Nachbarort Ringelai für Touristen interessant. Die könnten dann zur Buchberger Leite wandern, eine beliebte Klamm, und sich nach Freyung zurückfahren lassen. Zu groß dürfe das Bediengebiet aber nicht werden, der längeren Wartezeiten wegen.

Raus in die Winterwelt. Der Bus kommt. Hinterm Steuer sitzt fast immer Stefan Prager, 30 Jahre, Chef der Busfirma. Auf dem Armaturenbrett klemmt ein Tablet mit "Freyfahrt"-App und Route. Prager schaut selten drauf, er weiß besser, welche Straße er im Winter von welcher Seite anfährt, um hinaufzukommen. Der Ausflug führt nach Geyersberg. Ein Blick übers verschneite Freyung, zurück zum Kurhaus. Prager winkt, wenn er am Straßenrand "Stammfahrer" sieht. Die haben den Bus ihrer Routine hinzugefügt. Wie die Dame, die sich samstags mit vollen Tüten vom Supermarkt heimfahren lässt.

Prager erzählt, dass er anfangs durchaus skeptisch gewesen sei. Dann aber habe ihn die Flexibilität des Modells überzeugt. Das sei praktisch, gerade für die Anwohner in Stadtteilen, "von wo ich vielleicht zwei Kilometer bis in den Ort laufen muss". Aber, sagt Prager, "das ist kein Geheimnis": Ein paar Fahrgäste mehr dürften es schon gern werden.

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Quelle:
SZ vom 22.01.2019
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