Ölvorkommen in der Nordsee:Das Ende der Öl-Party

In der Nordsee sind die Vorkommen bald erschöpft. Nun heißt es: Abwracken und Aufräumen. Für Städte wie Aberdeen, die der Schatz im Meer reich machte, ist das bitter.

Von Björn Finke, Hartlepool/Aberdeen

Das Ungetüm ist schon von Weitem zu sehen. Die Straße zum Hafen führt durch Marschland. Rechts und links grasen Kühe auf den Wiesen. Am Horizont zeichnen sich die Schlote einer Chemiefabrik ab. Daneben ragt der stählerne Koloss in den grauen Himmel: 72 Meter breit und 130 Meter hoch bis zur Spitze des Mastes, wo einst Gas abgefackelt wurde. Der Bohrturm ist etwas niedriger. Diese Öl- und Gasplattform steht aber nicht auf hoher See, sondern an Land - auf einem Kai im Hafen Seaton Port.

Gut 40 Jahre lang, bis vergangenes Frühjahr, ruhte die Plattform Brent Delta auf drei Betonpfeilern in der stürmischen Nordsee östlich der Shetlandinseln. In den kargen Wohnquartieren konnten 160 Arbeiter leben: eine Fabrik und ein Hotel, umgeben von eisigem, 140 Meter tiefem Wasser. Doch im April hob ein Riesenkatamaran die Plattform aus der Verankerung und transportierte sie 740 Kilometer zu dem Hafen in der Stadt Hartlepool im Norden Englands. Die 24 200 Tonnen schwere Anlage wurde über Schienen auf den Kai bugsiert. Nun wird sie ausgeweidet.

Bis September wird der Koloss verschwunden sein, ihn erwartet ein schnödes Ende: "Den Stahl könnten wir an Hochöfen in Wales oder in der Türkei verkaufen", sagt Neil Etherington, Manager bei Able UK. Die Firma wrackt die Bohrinsel ab, ihr gehört zugleich der Hafen. 98,5 Prozent der Teile sollen recycelt werden.

Brent Delta ist eine von vier Plattformen des Öl- und Gasfelds Brent. Das hat seit 1976 ein Zehntel der gesamten britischen Nordsee-Produktion geliefert. Die Quellen gaben der Nordsee-Ölsorte auch ihren Namen. Doch sie sind bald erschöpft. Drei der vier Plattformen hat der Betreiber Royal Dutch Shell schon stillgelegt, bei der vierten - Brent Charlie - soll in wenigen Jahren Schluss sein. Europas größter Ölkonzern lässt die stählernen Inseln nacheinander von Able UK in Seaton Port zerlegen, Brent Delta macht den Anfang.

Nicht nur das Ölfeld Brent steht vor dem Aus. Bis 2025 werden Firmen 206 Nordsee-Plattformen ganz oder teilweise abbauen, rechnet der Branchenverband Oil & Gas UK vor. Das ist jede Dritte. Die Unternehmen werden 2447 Quellen im Meer versiegeln und 7780 Kilometer an Pipelines aufgeben - eine gigantische Aufgabe.

Die Förderregion hat ihre besten Zeiten hinter sich; seit dem Höhepunkt zur Jahrtausendwende sinkt die Produktion in den meisten Jahren. Quellen werfen immer weniger ab, noch nicht angezapfte Reserven sind klein oder schwierig auszubeuten. Das Ölzeitalter in der Nordsee nähert sich langsam, aber sicher seinem Ende. Jetzt müssen die Profiteure nach der Party aufräumen und die Spuren ihres Treibens beseitigen.

Wachstum gibt es nur in diesem Bereich: Stilllegen und Entsorgen

Das sind beunruhigende Aussichten für Großbritannien. Das Land hat gut gelebt vom Schatz im Meer. Allein das Brent-Feld lieferte seit 1976 mehr als 22 Milliarden Euro an Steuern ab. Direkt und indirekt hängen 302 000 britische Jobs am Offshore-Öl, am Öl von der See. Vor vier Jahren waren es allerdings um die Hälfte mehr. Doch im Sommer 2014 begann der Ölpreis rasant zu fallen. Produzenten und Zulieferer strichen Investitionen und Stellen: ein bitterer Vorgeschmack auf die künftigen Verluste, wenn in den kommenden Jahren und Jahrzehnten ein Feld nach dem anderen die Förderung einstellt.

Kräftiges Wachstum verspricht nur ein Bereich: das Stilllegen und Entsorgen von Anlagen aus der Nordsee. Decommissioning lautet der Fachbegriff dafür. Auf den Ölboom folgt also der Abwrackboom. Von dem wollen Unternehmen wie Able UK profitieren. Der Familienbetrieb mit 200 Beschäftigten hat 31 Millionen Euro investiert, um in seinem Hafen einen besonders stabilen Kai zu bauen, Kai Nummer 6 - "einen der stärksten in Europa", sagt Geschäftsführungs-Mitglied Etherington. Der 60-Jährige steht an der Anlegestelle und schaut hoch zur Brent Delta. Der Kai ist robust genug, um das Gewicht dieser und später der übrigen Brent-Plattformen auszuhalten. Etherington hofft zudem, noch zahlreiche weitere Aufträge fürs Abwracken solcher Anlagen zu ergattern.

In den Trümmern liegen Bilder nackter Frauen

Die Firma ist in vielen Bereichen tätig: Able UK betreibt Häfen, reißt Fabriken ab, entsorgt Müll. Und bereits seit 1985 recycelt der Mittelständler Bohrinseln, "aber erst jetzt gewinnt dieses Geschäft an Fahrt", sagt Etherington. Auch die Technik hat sich geändert. Brent Delta ist die erste Plattform, die in einem Stück geliefert wurde. Vorher war es üblich, die Anlagen auf hoher See in handlichere Teile zu zerlegen. "Das ist eine gefährliche Arbeit", sagt er. Schiffe brachten die Teile in mehreren Fuhren an Land. Möglich wurde die neue, einfachere Methode durch das größte Schiff der Welt. Der Katamaran Pioneering Spirit, zu Deutsch: Pioniergeist, ist so lang wie fünf Jumbojets und wurde vom Betreiber Allseas, einem Offshore-Dienstleister, extra für solche Aufgaben gebaut. Im April hob das Schiff die Brent Delta in einem zwölf Stunden dauernden Manöver an und transportierte sie dann zwischen seinen beiden Rümpfen zum Festland. Zurück blieben die drei Betonpfeiler.

Plattformen ruhen meistens auf Beinen aus Stahl, doch drei der vier Brent-Bohrinseln haben Betonpfeiler. Als diese in den Siebzigerjahren im Meer verankert wurden, hat sich niemand vorstellen können, dass sie in Zukunft wieder geborgen werden müssten. Aber seit 1998 schreibt ein internationaler Vertrag namens Ospar vor, dass Ölkonzerne bei der Stilllegung von Offshore-Feldern nichts zurücklassen dürfen. Allerdings sind Ausnahmen möglich. Und weil Betonbeine viel schwieriger als Stahlkonstrukte abzubauen sind, hofft Shell darauf, dass die Ospar-Kommission in London so eine Ausnahme gewährt.

Das Abwracken der Plattform Brent Delta ist bereits in vollem Gange. Am Fuß des Kolosses steht ein Arbeiter in seiner grell-orangefarbenen Montur und zerlegt mit dem Schneidbrenner ein langes Teil. Von hier wirkt die Bohrinsel bedrückend groß, ein trutziger Kasten aus Stahl. Aus den fensterlosen Wänden winden sich Rohre, Träger spreizen sich ab. Alles ist in den Shell-Farben Rot und Gelb gehalten, mit üppigen Sprenkeln von Rostbraun. "Etwa 50 Arbeiter sind gerade auf der Plattform", sagt Paul Corr, der Sicherheitsbeauftragte von Able UK. An einer Seite haben die Entsorgungsprofis eine Treppe errichtet. Corr führt die Stufen hoch, rauf zur Brent Delta.

Er zeigt in einen schummrigen Raum, drinnen Rohre, viel Rost. "Dort wurde das Öl verarbeitet", sagt er. Corr erklimmt die nächste Treppe, zum Bohrdeck mit dem Bohrturm. Dann geht es ins Innere der Plattform. Dunkle Gänge mit einst weißem, nun schmutzig-grauem Linoleumboden münden in den Kontrollraum mit seinen Monitoren und Schalttafeln. Die nächste Station ist die Messe, wo das Plattform-Personal gegessen hat. Sie ist voller Sperrmüll: Teile von Schränken und Betten aus den Wohnquartieren. In den Trümmern liegen laminierte Bilder nackter Frauen - Pin-ups, die früher über Betten für angenehme Träume gesorgt haben. "Über einigen Betten hingen sogar noch die Familienfotos", sagt Corr. "Wirklich seltsam."

In der Küche entdeckten die Abrissarbeiter insgesamt 1,5 Tonnen Essen. Die spendete Able UK an Lebensmitteltafeln. Auf Tischen standen noch Kaffeetassen und Kekse: ganz so, als hätte die Besatzung die Plattform nur für wenige Stunden verlassen - und nicht für immer.

In der Etage über der Messe sind Schlafzimmer. Arbeiter mit Brettern unter den Armen laufen durch die Gänge. In manchen Kammern hängen die Stockbetten weiterhin an den Wänden. "Zwei Männer haben sich ein Zimmer geteilt und abwechselnd in Schichten gearbeitet", sagt Corr. Danach führt der Weg rauf zum Hubschrauberdeck. Hier landete das Inselpersonal. Die Beschäftigten waren zwei Wochen auf der Brent Delta und danach drei Wochen zu Hause. Zuletzt, nach dem Kollaps des Ölpreises, änderten einige Ölkonzerne dieses Modell: Jetzt wird drei Wochen gearbeitet und drei Wochen bei der Familie verbracht. Das senkt die Kosten.

Vom Hubschrauberdeck schweift der Blick über das benachbarte Atomkraftwerk Hartlepool und die Mündung des Flusses Tees, an dem der Hafen liegt. Auf der anderen Seite des Flusses ist das Stahlwerk Redcar zu sehen, in der Ferne die wolkenverhangene Hügelkette der North York Moors, einer einsam-schönen Heidelandschaft. Das Stahlwerk musste 2015 schließen. Ein weiterer Rückschlag für Teesside, wie die Industrieregion am Fluss genannt wird. Die Arbeitslosigkeit war schon vor dem Aus für Redcar hoch, die Gegend leidet unter dem Niedergang alter Industrien wie Stahl oder Schiffbau. Corr zeigt gen Redcar: "Die Jobs da sind weg. Unsere Jobs hier haben eine sichere Zukunft."

Im schottischen Aberdeen verdienen die Leute jetzt weniger

Allein der Auftrag von Shell garantiert 50 Stellen bei Able UK. Für Teesside ist das erfreulich, jeder Job hilft. Allerdings sind 50 Arbeitsplätze beim Ausweiden ein Witz verglichen mit den Zehntausenden Stellen, die Nordsee-Förderer wegen des niedrigen Ölpreises gestrichen haben. Werden bald reihenweise Felder stillgelegt, fallen noch mehr Jobs weg. Able-UK-Manager Etherington warnt vor der Illusion, ein Abwrackboom könnte diese Verluste ausgleichen: "Politiker denken manchmal, das Abwickeln der Ölfelder werde Abertausende Stellen schaffen. Das ist nicht realistisch."

Eine Stadt im Königreich hat besonders gelitten unter dem Absturz des Preises und den Sparprogrammen: Aberdeen, gut 280 Kilometer nördlich des Abwrackhafens Seaton Port. Der Ort lebte früher vom Fischfang. Dann wurde 1970 in der Nähe Öl im Meeresgrund entdeckt. Manager aus Texas fielen in der schottischen Stadt ein, stilecht mit Cowboyhüten. Unternehmen wählten den Ort dank seiner Lage als Versorgungszentrum für die Plattformen aus; Förderfirmen und Zulieferer schufen Zehntausende Jobs und machten Aberdeen zu Europas Öl-Kapitale - und zu einer der reichsten Städte des Landes.

Jake Molloy kam Ende der Siebzigerjahre nach Aberdeen, weil er etwas vom Reichtum abhaben wollte. Der Schotte arbeitete auf Bohrinseln, auch im Brent-Feld, bevor er 1997 an Land zurückkehrte, um als Gewerkschafter für die Rechte der Offshore-Beschäftigten zu kämpfen. Der niedrigere Ölpreis beschert ihm nun viele Besucher: "Hier kommen ständig Leute wegen Kündigungen rein", sagt er. "Es herrscht Angst." Der 58-Jährige empfängt im Büro der Gewerkschaft RMT. Ein graues Haus in einer ebensolchen Straße. Aberdeen wird die Granitstadt genannt, da zahllose Gebäude aus dem grauen Stein bestehen. In der Nähe gab es einst Steinbrüche. An diesem Tag heben sich die Häuser kaum vom Grau des Himmels ab, der Wind ist eisig.

Die Stadtverwaltung will die Abhängigkeit vom Öl verringern - eine späte Einsicht

Die britische Nordsee - und damit Aberdeen - traf der Preisverfall 2014 besonders hart, denn die Region ist eines der teuersten Fördergebiete der Welt: Das Meer ist tief und rau, die verbleibenden Reserven sind oft klein. Die Ölkonzerne kappten Investitionen und Jobs, zudem zwangen sie Servicefirmen und Zulieferer, billiger zu werden. Diese strichen weitere Stellen. Die Produktionskosten halbierten sich seit 2014, bleiben aber vergleichsweise hoch.

Seit zwei Jahren legt der Ölpreis langsam wieder zu, ist jedoch weit entfernt von den 100 Dollar und mehr pro Fass, die früher erreicht wurden. Molloy erwartet darum kein baldiges Ende der Entlassungen in Aberdeen. Die Arbeitslosenquote in der einstigen Boomstadt mit 230 000 Einwohnern ist von einem sehr niedrigen Niveau aus kräftig gestiegen. Die Hauspreise sinken: Einige der gekündigten Offshore-Beschäftigten können sich die Hypothek nicht mehr leisten und müssen verkaufen. Auf einer Plattform verdiene ein angelernter Arbeiter zwischen 55 000 und 65 000 Euro im Jahr, sagt Molloy. Solche Leute finden meist einen neuen Job an Land, aber wohl kaum einen so gut bezahlten.

"Aberdeen ist immer noch reich", sagt Molloy, doch der Abschwung habe die Stadt verändert. Früher seien die Kneipen im Zentrum am Wochenende voll gewesen, nun sei es "sehr still". In Hotels habe es kaum freie Zimmer gegeben, vor Bürogebäuden kaum freie Parkplätze, dafür auf den Straßen ständig Staus. Das sei jetzt anders. Die Taxibranche leide ebenfalls.

Die Stadtverwaltung will die Abhängigkeit Aberdeens von der Ölförderung verringern - eine späte Einsicht. Die Kommune investiert in ein neues Messezentrum am Flughafen und in einen Hafen am Rande der Stadt, der 2020 eröffnet wird. Dieser Hafen wird mehr Tiefe und Lagerfläche haben als der Ankerplatz im Zentrum. Da das Wasser tiefer ist, sollen größere Kreuzfahrtschiffe anlegen können. Zudem soll es dann möglich sein, in Aberdeen Bohrinseln zum Abwracken anzulanden.

Bis alle Spuren beseitigt sind könnte es 40 Jahre dauern

Molloy glaubt allerdings nicht an eine Rückkehr der alten Boomzeiten. Und genau wie Abrissmanager Etherington glaubt er nicht, dass das Stilllegen von Feldern genügend Jobs schafft, um das Auslaufen der Förderung abzufedern. "Es ist immer die Rede von einer neuen Industrie, einer Goldgrube", sagt der Gewerkschafter spöttisch. Er rechne aber nur mit einigen Hundert Arbeitsplätzen im Königreich - auch weil sich heimische Entsorgungsfirmen schwer täten gegen norwegische Rivalen. Das skandinavische Land sei bei dem Thema weiter, klagt Molloy. Einige britische Plattformen wurden dort recycelt.

Fachleute gehen davon aus, dass es mindestens 40 Jahre dauern wird, bis die Produktion in der Nordsee komplett beendet ist und alle Spuren beseitigt sind. Im britischen Teil des Gewässers werden die Konzerne insgesamt 67 Milliarden Euro für die Stilllegung aufwenden müssen, schätzt die Aufsichtsbehörde Oil & Gas Authority. Zwischen 40 und 50 Prozent der Kosten können die Unternehmen mit ihrer Steuerlast verrechnen und sich so vom Fiskus zurückholen. Das große Aufräumen belastet also indirekt Staat und Bürger. Gewerkschafter Molloy fordert darum, Ölkonzerne zu zwingen, mit dem Abwracken britische Firmen und britische Beschäftigte zu beauftragen.

Der Schotte arbeitete zehn Jahre im Brent-Feld. Er spricht lebhaft über seine schönen Erinnerungen, über die Nordlichter, die er sah, die Wale und Delfine, Seeadler und Albatrosse; er redet von Kameradschaft, von Freundschaften. "Doch ich war auch 1988 auf der Brent Delta, als die Piper Alpha explodierte", sagt er. Bei dem Unglück auf der Nordsee-Bohrinsel starben 167 Menschen. Die Arbeit auf hoher See sei gefährlich, manchmal lebensgefährlich, sagt Molloy: "Aber es war eine gute Zeit." Für die Branche und ihre Beschäftigten kommt diese Zeit nicht mehr zurück.

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