Chemiefabrik in Brasilien:Wie Shell und BASF die Menschen krank machten

Im brasilianischen Paulínia produzierten Shell und BASF jahrelang das Insektizid Aldrin. Die Anwohner leiden, Kinder sind missgebildet. Der Fall ist ein Lehrstück aus der Serie von Umweltsünden ausländischer Multis in Schwellenländern.

Peter Burghardt

Irgendwann spürte Ciomara Rodrígues, dass etwas nicht mehr stimmte. Seit ihrer Kindheit wohnte die Brasilianerin auf dem Grundstück nahe der Chemiefabrik von Paulínia im Hinterland von São Paulo, ihre beiden Söhne kamen dort zur Welt. Ihr Ältester musste sich ständig übergeben und litt unter Durchfall, wenn sie ihm die Brust gegeben hatte.

Heute plagt ihn eine vergrößerte Milz, und seine Mutter leidet unter Leberschäden, Depressionen und weiteren mutmaßlichen Folgen des Insektizids Aldrin und anderer toxischer Stoffe. Dabei dachte sich die Frau erst nichts dabei. Der Betreiber Shell galt doch als seriös. 1977 bis 1992 stellte der Mineralkonzern in ihrer damaligen Nachbarschaft Pflanzenschutzmittel her, dann übernahm Cyanamid aus den USA, danach BASF aus Deutschland. "Wer konnte sich vorstellen, dass man so etwas mit uns macht?", fragte Ciomara Rodrígues in der Zeitung O Globo.

Knapp 26.000 Dollar für jeden

Bendita Mary Andrade ging es noch schlechter, sie hatte neun Jahre bei Shell in Paulínia gearbeitet. Ihr Sohn Leonardo wurde mit Missbildungen im Gehirn geboren, offenbar war auch dies eine Folge von Einflüssen aus der Giftküche nebenan. Beide Frauen gehören zu jenen Klägern, die von den Unternehmen seit Jahren Schadenersatz fordern. Die Anlage ist seit 2002 geschlossen und das verpestete Gebiet gesperrt. Mindestens 61 Betroffene sollen in den vergangenen zehn Jahren wegen der krebserregenden und anderweitig schädlichen Substanzen in Wasser, Luft und Boden gestorben sein. Mehr als 1000 frühere Angestellte und Anwohner haben Entschädigungen erstritten, doch nach wie vor herrscht juristische Verwirrung.

Ein Gericht entschied 2010, dass Shell und BASF die Kosten für die Behandlung der Erkrankten übernehmen. Kürzlich wurde das Urteil bestätigt. Die Arbeitsrichterin Maria Inês Corrêa de Cerqueira in Paulínia verfügte, dass die beiden Unternehmen 622 Millionen Reáis, umgerechnet 248,5 Millionen Euro, für das geschädigte Kollektiv sowie 64.500 Reáis (25.700 Euro) für jeden Einzelnen bezahlen. Außerdem seien pro Arbeitsjahr und Angestellten 20.000 Reáis (8000 Euro) zu entrichten. Shell/BASF sollten 1,1 Milliarden Reáis in einen Entschädigungsfonds hinterlegen, 440 Millionen Euro. Letztere Verpflichtung zur Hinterlegung des Geldes kassierte indes kurz danach der Oberste Arbeitsgerichtshof in Brasilia, eine rasche Wende. Die Verurteilten hatten Rechtsmittel eingelegt. BASF findet ohnehin, dass Shell verantwortlich sei. Der Fall Paulínia ist ein Lehrstück aus der Serie von Umweltsünden ausländischer Multis in Schwellenländern und den Konsequenzen.

In Ansätzen erinnert das Drama an den Rechtsstreit um Chevron-Texaco in Lago Agrio im Amazonasgebiet von Ecuador. In der Gegend hatte der US-Gigant Texaco jahrelang nach Öl gebohrt, Milliarden Dollar verdient und den Urwald verseucht. Dann zogen die Nordamerikaner ab und hinterließen ein ökologisches Desaster. Einheimische starben und wurden krank. Wer durch den Dschungel fährt, der sieht noch heute die Spuren schmieriger Verwüstung.

30.000 Geschädigte schlossen sich zusammen und klagten 1993 gegen Texaco und Rechtsnachfolger Chevron, angeführt von mutigen Ecuadorianern wie dem Anwalt Pablo Fajardo und dem Aktivisten Luis Yanza. Im Februar 2011 verurteilte ein Gericht in Lago Agrio Chevron zu einer Entschädigung in Höhe von 18 Milliarden Dollar, es war der Umweltprozess mit dem bisher größten Streitwert. "Ein Triumph der Justiz", fand der Jurist Fajardo. Doch auch diese Causa ist damit keineswegs zu Ende.

Spiel auf Zeit

Zuvor hatten die Angeklagten die Verhandlung mit allen Tricks, viel Geld und einem Heer von Anwälten in die Länge gezogen. Unter anderem argumentierte Chevron, dass der Petroecuador das meiste Öl verschüttet habe. Auch die geforderte Entschuldigung schlug der Konzern aus, daraufhin verdoppelte sich die Buße von zunächst 8,6 Milliarden Dollar.

Nachher nannte Chevron die Strafe "illegal" und "inakzeptabel", zog vor ein internationales Schiedsgericht und verweigert die Zahlung mit immer neuen Manövern. Zwischenzeitlich lief Chevron auch noch Öl vor Brasiliens Küste aus. Der Druck auf Ecuador wird erhöht, laut Ecuador sogar im US-Kongress in Washington. Die Interessengemeinschaft der Opfer klagte gerade, Chevron habe in den vergangenen Jahren allein 59 Millionen Dollar für Lobbyisten ausgegeben. Kein Problem bei einem Nettogewinn von 27 Milliarden Dollar 2011. Noch immer ist unklar, ob und wie der Krösus für sein schmutziges Erbe im Busch zur Kasse gebeten werden könnte.

Ecuadors linker Präsident Rafael Correa sagte, es sei ein Kampf von David gegen Goliath. Manchmal gewinnt David, aber deshalb muss Goliath nicht verloren haben. Und was heißt schon Sieg. "Wir kämpfen seit 18 Jahren für Gerechtigkeit, damit etwas für uns und unsere Familien getan wird", wird in einem Schriftstück der Klägervereinigung Maria Toalá zitiert, sie lebte im Ort Shushufindi nahe einer Ölwanne von Texaco. "Mein Vater ist an Krebs gestorben, ich habe auch Krebs. Ich bitte darum, dass für den Schaden endlich Justiz geübt wird."

In Paulínia in Brasilien hofft derweil die ehemalige Shell-Angestellte Benedita Mary Andrade darauf, dass sie mit der Buße von Shell und BASF ihren behinderten Sohn versorgen kann. Das Geld wird ihn nicht gesund machen. "Aber ich muss seine Zukunft garantieren. Zu wissen, dass meine Arbeit die Ursache seiner Probleme war, ist schmerzhaft." Am einstigen Firmengelände steht ein Schild: "Betreten verboten. Risiko für die Gesundheit."

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