Samstagessay:Kapital im Überfluss

Samstagessay: Sparschweine sehen süß aus, bringen aber überhaupt keine Zinsen: Das Geld ist in einem Aktienfonds meist besser aufgehoben.

Sparschweine sehen süß aus, bringen aber überhaupt keine Zinsen: Das Geld ist in einem Aktienfonds meist besser aufgehoben.

(Foto: Peter Kneffel/dpa)

Was Negativzinsen für Sparer, der hohe Überschuss in der deutschen Leistungsbilanz, der Streit um die schwarze Null im Bundeshaushalt und US-Präsident Donald Trump miteinander zu tun haben.

Von Nikolaus Piper

Ausgerechnet die Volksbank Raiffeisenbank Fürstenfeldbruck hat am 1. Oktober dieses Jahres Geschichte geschrieben. Sie ist, soweit bekannt, das erste Kreditinstitut in der Bundesrepublik, das auf Tagesgeldkonten normaler Neukunden einen Negativzins von 0,5 Prozent erhebt. Viele Banken verlangen zwar schon längere Zeit von vermögenden Kunden solche Strafzinsen, andere berechnen Gebühren, die einem Negativzins gleichkommen. Aber jetzt ist diese Politik endgültig bei den kleinen Leuten angekommen. Wer heute spart, verliert viel Geld, und das, obwohl es in Deutschland fast keine Inflation gibt.

Als Schuldige an der Misere der Sparer gilt in der Regel die Europäische Zentralbank und ihr früherer Chef Mario Draghi. Schließlich machen die Banken ja nichts anderes, als die Kosten, die ihnen die EZB mit ihrer Zinspolitik aufbürdet, an ihre Kunden weiterzugeben. Diese Sichtweise ist nicht ganz falsch, die EZB beeinflusst ja wirklich die kurzfristigen Zinsen in der Euro-Zone. Aber das ist nicht die ganze Geschichte, es ist noch nicht einmal der größere Teil. Das merkt man schon daran, dass bei Weitem nicht nur kurzfristige Anlagen von dem Zinsverfall betroffen sind. Die Verzinsung deutscher Bundesanleihen liegt bei minus 0,3 Prozent (Stand Freitagnachmittag). Bundesfinanzminister Olaf Scholz bekommt also 29 Cent geschenkt, wenn er sich 100 Euro für den Bundeshaushalt borgt. Auch französische Staatsanleihen haben eine negative Verzinsung (minus 0,04), ebenso japanische (minus 0,01) und erst recht schweizerische (minus 0,64).

Der Zins ist der Preis für Kapital. Im Normalfall, wenn Kapital knapp ist, wenn also mehr Ersparnisse nachgefragt werden, als die Sparer dem Markt zur Verfügung stellen, ist der Zins positiv. Wenn Kapital dagegen keinen Preis bringt, wenn man stattdessen den Banken eine Gebühr zahlen muss, bloß damit sie einem das Geld verwahren, dann kann dies nur bedeuten, dass es von diesem Kapital viel mehr gibt, als auf vernünftige Weise investiert werden kann, dass ein Teil also schlicht überflüssig ist.

Kapital im Überfluss - genau das ist das Drama, das derzeit in der Weltwirtschaft gegeben wird, und das seine Spuren bis in die Bilanz der Volksbank von Fürstenfeldbruck hinterlassen hat. In Politik und Wirtschaft findet ein Paradigmenwechsel statt. Sparer verlieren an Macht, Investoren gewinnen entsprechend. Weil das so ist, muss man zum Beispiel über die Schuldenbremse im Bundeshaushalt ganz neu nachdenken, ebenso wie über den Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands, der ja nichts anderes ist als eine gigantische Sparleistung der deutschen Volkswirtschaft von 294 Milliarden Euro (2018).

Wann das Thema mit dem überflüssigen Kapital in die Welt gekommen ist, lässt sich ziemlich genau feststellen. Am 10. März 2005 hielt der damalige Präsident der amerikanischen Notenbank Fed, Ben Bernanke, in Richmond im Bundesstaat Virginia, eine Grundsatzrede. Darin warnte er, dass die Welt von einer "Sparschwemme" (savings glut) heimgesucht werde. Die Ursache sah er in den aufstrebenden Staaten Asiens, besonders China. Sie hätten riesige "Kriegskassen" gebildet, um sich vor einer Kapitalflucht wie während der Asienkrise 1997/98 zu schützen: "In der Praxis erhöhten diese Staaten ihre Reserven dadurch, dass sie Schuldtitel an ihre Bürger ausgaben und vom Erlös amerikanische Staatspapiere und andere Vermögenswerte kauften," sagte Bernanke. Damit hätten die Regierungen Asiens Kapital lokalen Investoren entzogen und den globalen Finanzmärkten zur Verfügung gestellt. Eines der Ergebnisse: ein noch höheres Defizit in der amerikanischen Leistungsbilanz.

Zwei Jahre nach dieser Rede brach die große Finanzkrise aus, begünstigt auch durch die Sparschwemme, die man damals meist noch "globale Ungleichgewichte" nannte. Jedenfalls waren Fachleute wie Bernanke zunächst einmal mit der Rettung der Welt beschäftigt und hatten wenig Zeit für Grundsatzpapiere. Im November 2013 jedoch, als sich die Konjunktur erholt hatte, meldete sich Larry Summers zu Wort, Harvard-Ökonom, Finanzminister unter Präsident Bill Clinton und Berater von Barack Obama. Den Industrieländern drohe eine "säkulare Stagnation", sagte er auf einer Veranstaltung des Internationalen Währungsfonds (IWF). Der Begriff stammt von dem Ökonomen Alvin Hansen aus der Weltwirtschaftskrise und beschreibt einen Zustand, in dem das Wachstum dauerhaft niedrig ist und nicht ausreicht, um die Arbeitslosigkeit abzubauen. Zwar herrscht heute in den Vereinigten Staaten, Deutschland und anderen Industrieländern tatsächlich Vollbeschäftigung, aber die Löhne steigen nur langsam, und Sparer werden faktisch bestraft.

Was die Ursachen des Kapitalüberflusses betrifft, gibt es gesicherte Erkenntnisse und einige, allerdings gut begründete Vermutungen. So nimmt das Durchschnittsalter der Bevölkerung in den meisten Industrieländern zu. Alternde Gesellschaften aber investieren weniger und sparen mehr, weil dort mehr Menschen Rücklagen fürs Alter bilden müssen. Einige Regierungen sparen auch ganz gezielt, um die künftig zu erwartenden Ausgaben für immer mehr Rentner und Pensionäre schultern zu können. Bestes Beispiel ist Deutschland mit seiner "Schuldenbremse" im Grundgesetz. In diesem Jahrzehnt ist die Verschuldung der Bundesrepublik von 82,4 auf 59,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zurückgegangen. Volkswirtschaftlich gesehen ist das eine gewaltige Ersparnis, die unter anderem zu einem steigenden Überschuss in der Leistungsbilanz führt: Wer mehr spart, kauft auch weniger im Ausland ein.

Auch die Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung in den meisten Ländern spielt eine Rolle. Moritz Schularick, Ökonom von der Universität Bonn, sagt: "Ein immer stärkerer Anteil der Einkommen geht in vielen Ländern an die oberen zehn Prozent" (SZ vom 3. Dezember 2019). Reiche aber sparen im Verhältnis viel mehr als der Durchschnitt der Bevölkerung.

Etwas spekulativ, aber sehr plausibel sind die Versuche zu erklären, warum die Nachfrage nach Krediten so niedrig ist und warum die Unternehmen nicht mehr investieren, wo es doch Kapital im Überfluss gibt. Das könnte mit der Digitalisierung zusammenhängen. Wer eine Internetfirma gründet, braucht viel weniger Kapital als jemand, der ein Chemiewerk oder eine Autofabrik baut. Der Trend geht aber weg von den Fabriken hin zu Firmen, deren Kapital auf Festplatten, in der Cloud oder in den Köpfen der Mitarbeiter liegt. Gleichzeitig sind Unternehmen wie Apple, Alphabet (die Mutterfirma von Google) oder Facebook weltweit dominierender als es General Motors oder General Electric je waren.

Ein neues Denken wird auch im Buch "Sparen und Investieren im 21. Jahrhundert" gefordert.

Wenn diese Analyse stimmt und Kapital wirklich aufgehört hat, knapp zu sein, dann muss besonders die deutsche Politik grundlegend umdenken und ihr Verhältnis zu Staatsschulden, zu Investitionen und zum Außenhandel neu justieren. Ein "neues Denken" fordern denn auch die Ökonomen Hagen Krämer (Hochschule Karlsruhe - Technik und Wirtschaft) und Carl Christian von Weizsäcker (Universität Bonn) in ihrem neuen Buch. Es trägt den spröden Titel "Sparen und Investieren im 21. Jahrhundert", hat es aber in sich.

Weizsäcker und Krämer glauben, dass nur Regierungen die Lücke zwischen Sparen und Investieren schließen. Daher sollte Deutschland die Schuldenbremse wieder aus dem Grundgesetz streichen. "Die schwarze Null ist falsch", sagt Weizsäcker. Stattdessen sollte die Bundesrepublik mit ihren Partnern einen "Bilanzpakt" abschließen. Darin würden sich Länder mit einem hohen Überschuss in der Leistungsbilanz verpflichten, mehr zu investieren, so lange bis die Bilanz ausgeglichen ist. Damit würde das Land nur im eigenen Interesse handeln, denn bei einem Plus in der Leistungsbilanz bedeuteten zusätzliche Schulden keine Belastung für die Zukunft. Und zu investieren gibt es ja genug, in Schulen, die Digitalisierung, in die Deutsche Bahn. So ein Pakt wäre auch geeignet, das Prinzip des freien Welthandels gegen die Angriffe von US-Präsident Donald Trump zu verteidigen.

Für die beiden Autoren geht es bei dem Thema um die Grundlagen einer freien und demokratischen Gesellschaft. Demokratie und Marktwirtschaft seien nur miteinander vereinbar, wenn es auch einen leistungsfähigen Sozialstaat gibt. Damit der aber nicht die Gesellschaft überfordert, "muss es den Menschen ermöglicht werden, für ihre Zukunft selbst vorzusorgen". Dazu seien stabile Preise und positive Zinsen notwendig. Im 21. Jahrhundert seien damit Staatsverschuldung und Preisstabilität "Verbündete" und nicht Gegner, wie frühere Ökonomen dachten.

Das Programm von Krämer und Weizsäcker passt, was die Investitionen betrifft, zu ähnlichen Vorschlägen vieler anderer Ökonomen und, auf den ersten Blick, auch zu den Forderungen der neuen, linken SPD-Spitze. Allerdings sieht die SPD die Investitionen nicht als Alternative zur Überdehnung des Sozialstaats, sondern fordert im Gegenteil beides: ein Investitionsprogramm von 450 Milliarden Euro und den weiteren, teuren Ausbau des Sozialstaats.

Auf der anderen Seite ist es klar, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Die negativen Zinsen belasten nicht nur alle, die fürs Alter vorsorgen wollen, sie gefährden die Stabilität des Bankensystems. Außerdem wäre es fahrlässig, sich weiter auf hohe Handelsüberschüsse - der Konsequenz der deutschen Sparsamkeit - zu verlassen. Der Protektionismus von Donald Trump mag irregeleitet sein, er wird trotzdem nicht so schnell verschwinden. Linke Demokraten wie die Präsidentschaftskandidatin Elizabeth Warren denken in Handelsfragen nicht viel anders als der amtierende Präsident.

Und dann gibt es noch einen nicht zu unterschätzenden Vorteil. Wäre die Finanzpolitik expansiver, würde die Geldpolitik entlastet. Christine Lagarde könnte es mit der EZB früher wagen, mit der Normalisierung der Zinsen zu beginnen und damit aufhören, Geld zu drucken. Und das käme dann direkt auch bei den Sparern in Fürstenfeldbruck an.

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