Süddeutsche Zeitung

Ökonomie:Wenn Forscher teuer täuschen

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Von Alexander Hagelüken, München

Wie viel sollen die Griechen sparen? Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff erregten 2010 Aufsehen, als sie das in einer Studie exakt bezifferten: Ab 90 Prozent Staatsschuld bricht die Wirtschaft ein. Griechenland hatte Schulden von 150 Prozent der Wirtschaftsleistung. Daher rechtfertigte die US-Studie den umstrittenen Sparkurs für Griechenland und andere Euro-Krise-Staaten. Bis Prüfer feststellten: Reinhart/Rogoff hatten sich verrechnet. Deutsche Ökonomen wollen solche Studien nun öfter nachprüfen.

Fehlerhafte Forschung richtet enormen Schaden an, sagt Gert Wagner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Reinhart und Rogoff bestätigten fälschlich eine Theorie, auf die sich EU-Politiker wie der damalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble beriefen: "Deshalb wurden manche Regierungen gedrängt, zu viel zu sparen." Was manche Ökonomen als Grund sehen, warum Griechenland nur langsam aus der Krise kommt.

In einem anderen Fall suggerierten Daten, dass Gutverdiener wie Manager oder Selbständige wegen der Einkommensteuer ihre Arbeitszeit reduzieren. So behauptet es ja auch die Mainstream-Theorie. Weniger Arbeiten reduziert das Wirtschaftswachstum. Das diente als Begründung, den deutschen Spitzensteuersatz ab Ende der 1980er-Jahre von 56 auf 42 Prozent zu senken - zulasten der Normalverdiener, die unterm Strich mehr zahlen als vor 20 Jahren. Doch die alten Daten stimmten nicht, sagt Wagner. Neuere Messungen ergaben: In Wahrheit arbeiten Gutverdiener ungeachtet der Steuer viel. Trotzdem lässt die Politik die Spitzensteuer niedrig.

Wagner will zusammen mit Kollegen wie Hilmar Schneider vom Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) solche Fehler schneller korrigieren, bevor sie Schaden anrichten. "Ich mache mir Sorgen, dass sich die Wissenschaft ins Abseits manövrieren könnte", sagt Schneider. "Forscher lassen sich zu schnell zu steilen Thesen hinreißen." Doch überprüft wird selten: Nur jeder tausendste Aufsatz in renommierten Ökonomie-Journalen ist eine Überprüfung anderer Aufsätze.

Wie die Wissenschaft wackelt, wenn mal überprüft wird, zeigen die US-Ökonomen Andrew Chang und Phillip Li. Sie rechneten 60 Aufsätze nach - und kamen nur in jedem zweiten Fall auf das gleiche Ergebnis. Also kann etwas nicht stimmen. Generell ist die Zahl der Arbeiten, deren Ergebnisse sich nicht wiederholen lassen, "mit 40 bis 50 Prozent erschreckend hoch", warnt Schneider. Dabei handelt es sich teilweise um Fehler, teilweise wohl aber auch um Manipulationen, um ein besonders spektakuläres oder politisch gewünschtes Ergebnis zu erzielen. Ein Phänomen, dass aus anderen Fachrichtungen bekannt ist.

Schneider, Wagner und andere gründeten 2017 das Journal IREE, um Überprüfungen wirtschaftlicher Studien zu veröffentlichen. Bisher allerdings sind erst acht sogenannte Replikationen erschienen. Die Hälfte davon hat einer der Initiatoren als Mustervorlagen selbst erstellt. "Das zeigt, dass wir noch einen weiten Weg zu gehen haben", sagt Schneider selbstkritisch.

Wagner kritisiert verkehrte Anreize im Wissenschaftsbetrieb. Wer eine Neuigkeit veröffentlicht, profitiert, selbst wenn das Ergebnis unbedeutend ist. Daher probierten Forscher so lange herum, bis ein gerade noch haltbares Ergebnis herauskommt. Wer dagegen die Fehler anderer aufdeckt, mehrt oft nicht seinen Ruhm, sondern bekommt Ärger - und schadet womöglich seiner Karriere. Gerade junge Forscher, die noch auf einen Lehrstuhl berufen werden müssen, der erst ihren Lebensunterhalt sichert, überlegen sich das zweimal. Hilmar Schneider erzählt, wie er auf einer Veranstaltung des Vereins für Socialpolitik, des maßgeblichen deutschen Ökonomenvereins, mal wieder Lob für seinen Vorstoß erhielt. Dann fragte ein junger Forscher, ob IREE anonyme Replikationen veröffentliche. "Da wusste ich, eine gute Idee reicht nicht." Die Angst sitzt tief.

Für den Direktor des Bonner IZA-Instituts geht es um nicht weniger als die Zukunft seiner Zunft. Er beklagt den Schaden, den verkehrte Prognosen anrichteten. Als 2015 in Deutschland als einem der letzten Länder Europas ein Mindestlohn eingeführt werden sollte, zeterten die Arbeitgeber. Forscher des Ifo-Instituts in Dresden behaupteten, der Mindestlohn koste bis zu 900 000 Jobs. Das ist nicht passiert.

Schneider sieht einen Reputationsverlust der Wissenschaft, der damit zu tun habe, dass sie sich nicht konstruktiv mit abweichenden Ergebnissen auseinandersetze - sondern einen Brei von Beliebigkeiten produziere. "Kann man mit Lohnsubventionen Beschäftigung fördern? Sie werden 35 Studien finden die sagen: Ja. Und 35, die sagen: Nein." In weiten Teilen der Öffentlichkeit hätten Experten inzwischen einen eher zweifelhaften Ruf. Doch wenn Wissenschaftler als Quelle des Wissens ausfallen, besetzen andere das Feld, die ihre eigene Agenda verfolgen - im Zeitalter der Populisten eine Gefahr.

Studien zu überprüfen wäre schon deshalb wichtig, weil die Mängel nicht nur in der Ökonomie auftreten, sondern auch in der Betriebswirtschaft. Johannes Habel von der Berliner Managementuni ESMT beklagte schon 2015, in seinem Fach gebe es weniger Überprüfungen als in anderen. "Welche Wettbewerbsstrategie liefert Ihnen wann den größten Vorteil? Wie meistern Sie den Wechsel vom Produkt- zum Dienstleistungsanbieter? Wie überzeugen Sie Kunden davon, Ihr Produkt zu kaufen? Die Menge der Einzelerkenntnisse zu diesen Fragen ist überwältigend. Doch aufgrund fehlender Replikation wissen wir oftmals nicht, ob und wann sie wahr sind."

Es gebe Forscher, die verkauften Erkenntnisse aus einzelnen Studien als allgemeingültig - "sei es aus Geltungsbedürfnis oder unzureichendem Verständnis". Habel rät Unternehmen, nach Replikationen der Studien zu fragen. Aber wie lassen sich die falschen Anreize im Forschungsbetrieb überwinden, damit mehr Studien überprüft werden? Gert Wagner macht einen einfachen Vorschlag: Jeden Doktoranden verpflichten, in einem Kapitel der Doktorarbeit eine fremde Studie zu überprüfen.

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Quelle:
SZ vom 02.11.2018
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