Süddeutsche Zeitung

Karl Marx:800 Seiten, die die Welt veränderten

Vor genau 150 Jahren erschien eines der wichtigsten Bücher der Wirtschaftsgeschichte: "Das Kapital" von Karl Marx. Aber was sagt es uns heute?

Von Nikolaus Piper

Wie so oft klagte Karl Marx über den drückenden Geldmangel, unter dem er im Londoner Exil litt. Am 14. August 1867 schrieb der Privatgelehrte an seinen Freund und Gönner Friedrich Engels in Manchester. Er sei von "Exekution" (Zwangsvollstreckung) bedroht, wenn er nicht umgehend elf Pfund und neun Pence Steuern nachzahle. Und im Pfandhaus seien ein Pfund und 15 Pence Zinsen fällig. Der Brief an den "lieben Frederick" endet mit den Worten: "Ich habe heute 48 Bogen erhalten. Diese Woche wird also die Scheiße fertig."

Die "Scheiße" - das war der erste Band von "Das Kapital", 800 Seiten Manuskript, 48 Druckbögen. Das Buch erschien einen Monat später, am 14. September 1867 im Verlag Otto Meißner in Hamburg, gedruckt wurde es in der Druckerei Otto Wigand in Leipzig. Vier Jahre brauchte der Verlag, bis er die ersten 1000 Exemplare verkauft hatte. Den zweiten und dritten Band brachte Friedrich Engels erst nach Marx' Tod 1883 heraus.

Heute gehört "Das Kapital" zum Unesco-Welterbe. Es ist eines der wirkmächtigsten Bücher der Weltgeschichte, es schuf Hoffnung für Millionen, beförderte Revolutionen und lieferte Ausreden für Jahrhundertverbrechen. Das Buch legte die Grundlagen für eine Ideologie, die man einmal "wissenschaftlicher Sozialismus" nannte. Seine wichtigsten Aussagen sind heute ohne Bedeutung, trotzdem hat Marx die Wissenschaft vorangebracht, vor allem, weil er andere zwang, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Auch heute wird "Das Kapital" wieder verklärt, seit der Finanzkrise stärker denn je. Deshalb ist es so wichtig zu verstehen, was "Das Kapital" nicht ist: Es ist kein Entwurf für eine sozialistische Gesellschaft und es ist auch kein Buch über soziale Gerechtigkeit (Marx lehnte den Begriff ab). "Der letzte Endzweck dieses Werkes ist es", so schrieb er, "das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen."

"Das Kapital" wäre vielleicht nie entstanden, wäre nicht 1857 eine große Weltwirtschaftskrise ausgebrochen. Marx sah diese Krise als Bestätigung für die Thesen des "Kommunistischen Manifests", das er 1848 zusammen mit Engels geschrieben hatte. Jetzt wollte er ein großes Werk über politische Ökonomie schreiben. Er verbrachte seine Tage im Lesesaal des British Museum in London, um die klassischen Ökonomen und Statistiken zu studieren. Aus diesen Studien entstand schließlich "Das Kapital".

Der Weg dorthin muss eine Qual gewesen sein. Marx lebte mit seiner Frau Jenny und drei Töchtern in erbärmlichen Verhältnissen; die Familie überlebte nur dank der großzügigen Überweisungen des Firmenerben Engels. Marx' Gesundheit war ruiniert, er litt unter Eiterbeulen. Der Bremer Ökonom Rudolf Hickel, der 1969 bei Ullstein die erste westdeutsche Edition von "Das Kapital" herausbrachte, sagt: "Ich denke immer Marx' Gesundheitszustand mit, vor allem angesichts seiner Unduldsamkeit anderen gegenüber."

Marx war überzeugt, dass nur menschliche Arbeit Wert schaffen kann

Das zentrale Thema von "Das Kapital" ist der "Wert", und der steckt voller Widersprüche. Ein Pfund Garn (um eines der vielen Beispiele von Marx zu nehmen) hat einen "Gebrauchswert" - man kann es zu einem Hemd vernähen. Es hat aber auch einen "Tauschwert", in dem Fall 30 Schillinge. Während nun die Gesellschaft am Gebrauchswert interessiert ist, sind für die Kapitalisten nur Tauschwerte von Bedeutung: Sie wollen "eine Ware produzieren, deren Wert höher ist als die Wertsumme der zu ihrer Produktion erheischten Waren, der Produktionsmittel und der Arbeitskraft", wie es im "Kapital" heißt.

Wie die Klassiker der Nationalökonomie auch war Marx der Überzeugung, dass nur menschliche Arbeit Wert schaffen kann. Arbeit, eine Ware wie jede andere auch, ist so viel wert wie die Arbeit, die zu ihrer Erhaltung notwendig ist, also für Kleidung, Essen, Wohnung. Darüber hinaus kann der Lohn nicht steigen, dafür sorgt eine "industrielle Reservearmee" von Arbeitslosen, die ständig bereitsteht. Der Kapitalist verkauft die Produkte der Arbeit teurer, er streicht einen "Mehrwert" ein. Dieser Mehrwert bestimmt, wie hoch die "Profitrate" ist, und die wirkt als Motor des Kapitalismus.

Das Problem für ihn dabei: Je weiter die Entwicklung fortschreitet, desto größer wird der Bestand an Gebäuden und Maschinen, also an Kapital, und desto geringer der Anteil der Arbeit als einziger Quelle des Mehrwerts. Eine Zeit lang können sich Kapitalisten noch durch verschärfte Ausbeutung diesem "tendenziellen Fall der Profitrate" entgegenstemmen, doch vergeblich. Irgendwann versiegt die Quelle des Profits, und das Ende des Kapitalismus ist da.

Offenkundig hat Marx hier fundamental geirrt, trotzdem glauben Marxisten heute immer noch bei jeder Krise, jetzt schlage nun wirklich das Totenglöckchen für den Kaptalismus. Mehr noch: Die Faszination des Buches ist heute so groß wie schon lange nicht mehr, auch und gerade unter Menschen, die es gar nicht gelesen haben. Daher muss man sortieren. Das bleibende Verdienst von Karl Marx liegt darin, erkannt zu haben, dass sich der Kapitalismus verändert, dass Krisen Teil dieser Entwicklung sind und dass diese von der Kapitalrendite ("Profitrate") und den Investitionen ("Akkumulation des Kapitals") angetrieben wird. Reine Metaphysik ist dagegen die ganze Werttheorie und mit ihr die Erklärung für den Fall der Profitrate.

Das Wertproblem haben die neoklassischen Ökonomen Leon Walras (1834 - 1910), Stanley Jevons (1835 - 1882) und Carl Menger (1840 - 1921) auf plausible Weise gelöst: Eine Ware, so lehrten sie, wird dadurch wertvoll, dass sie knapp ist, dass die Menschen mehr davon haben wollen, als zur Verfügung steht. Einen ominösen "Arbeitswert" braucht man nicht. Den "tendenziellen Fall der Profitrate" dagegen gibt es sehr wohl, nur hat er andere Ursachen. Der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter, in Marx' Todesjahr 1883 geboren, hat dies mit seiner Theorie vom Pionierunternehmer gezeigt: Wenn ein Unternehmer ein neues Produkt auf den Markt bringt, ist er zunächst Monopolist und erzielt einen Pioniergewinn. Dann jedoch treten Nachahmer auf, die Ware wird billiger, und der Gewinn schwindet. Anders als Marx glaubte, führt dieser Wettbewerb aber nicht in den Untergang des Kapitalismus, sondern ist Anreiz für neue Innovationen. Schumpeter hat seine Theorie in bewusster Auseinandersetzung mit Marx entwickelt und diesen immer hoch geschätzt.

Viel wichtiger noch waren die Wirkungen von "Das Kapital" auf die Politik. Das Buch gab der Arbeiterbewegung eine neue theoretische Grundlage und das Gefühl, dass "mit uns die neue Zeit zieht", wie es in einem schönen Arbeiterlied heißt. Es ging dabei nicht um die Feinheiten der Werttheorie, die ohnehin niemand verstand, sondern um Marx' Anspruch, ein "Gesetz" über die Entwicklung des Kapitalismus entdeckt zu haben. Die schwarze Seite dieses Anspruchs zeigte sich nach der Oktoberrevolution 1917. Die Despoten Lenin, Stalin und später Mao konnten sich bei jedem Akt der Repression auf Marx und irgendwelche historischen "Gesetze" berufen. Die SED ging "von den gleichen allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten der sozialistischen Revolution und des sozialistischen Aufbaus aus, die in der Sowjetunion ihre praktische Bestätigung gefunden hatten", hieß es in einem offiziösen DDR-Geschichtsbuch. Wer nicht an diese Gesetzmäßigkeiten glaubte, der vertrat "opportunistische Auffassungen".

Die SPD hatte eine wechselhafte Beziehung zu Marx

Über die Neigung, historische "Gesetze" zu postulieren, schrieb der amerikanische Liberale Walter Lippmann (1889 - 1974): "Die Kollektivisten ... besitzen den Drang zum Fortschritt, die Sympathie für die Armen, den brennenden Sinn für Unrecht, den Impuls für große Taten, alles Dinge, die dem späteren Liberalismus fehlten. Aber ihre Wissenschaft beruht auf einem grundlegenden Missverständnis (...), und daher sind ihre Handlungen zutiefst destruktiv und reaktionär."

Die SPD ist der kollektivistischen Versuchung nie erlegen, trotzdem hatte sie eine sehr wechselhafte Beziehung zu Karl Marx. 1869, zwei Jahre nach Erscheinen von "Das Kapital", gründete August Bebel in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP), die sich vom bürgerlichen Liberalismus absetzte und die Statuten der Internationalen Arbeiterassoziation von Marx akzeptierte. Das Erfurter Programm der SPD von 1891 war dann uneingeschränkt marxistisch. Aber bereits 1896 erkannte der als "Revisionist" bekannt gewordene SPD-Politiker Eduard Bernstein (1850 - 1932) die Mängel von "Das Kapital" und versuchte, das Programm der SPD an die Bedürfnisse einer Partei anzupassen, die über freie Wahlen an die Macht kommt. Erst 1959 konnte die SPD mit dem Godesberger Programm den marxistischen Ballast endgültig abwerfen.

Das Originalmanuskript von "Das Kapital" ist heute verschollen. Wahrscheinlich hat es der Enkel Otto Meißners 1929 dem SPD-Archiv in Berlin vermacht, wo sich seine Spuren verlieren. Das Hamburger Verlagsgebäude wurde im Krieg zerstört. Otto Meissners Verlag gibt es zwar noch, der Verlagssitz aber ist Berlin. Derzeit erinnert im Hamburger Museum der Arbeit eine Ausstellung an Karl Marx und "Das Kapital". Sie hat noch bis 4. März 2018 geöffnet.

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SZ vom 14.09.2017/vit
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