Ökonom Rudolf Hickel im Gespräch:"Richtig Tabula rasa machen"

Abrechnung mit der Agenda 2010: Ökonom Rudolf Hickel über die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse durch Hartz IV, Roland Kochs populistischen Vorstoß - und den "Eiertanz" der SPD.

Melanie Ahlemeier

Rudolf Hickel, 68, ist Professor für Wirtschaftswissenschaften und Gründungsdirektor des Instituts Arbeit und Wirtschaft der Universität Bremen, das er bis Ende September 2009 führte. Mitte der siebziger Jahre war er Mitbegründer der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik.

Rudolf Hickel, Grafik: sueddeutsche.de; Fotos: dpa, ddp, oH

Ökonom Rudolf Hickel: "Hartz IV muss grundsätzlich reformiert werden."

(Foto: Grafik: sueddeutsche.de; Fotos: dpa, ddp, oH)

sueddeutsche.de: Herr Professor Hickel, Hartz IV feiert fünften Geburtstag - haben Sie schon Jubiläumsglückwünsche an Gerhard Schröder und Peter Hartz geschickt?

Hickel: Ich habe keine Jubiläumsgrüße an die selbsternannten Sozial-Innovatoren. Und wenn, dann würde ich höchstens einen eigenen Artikel aus dem Jahr 2003 senden, mit der hoffentlich nicht als überheblich wahrgenommenen Bemerkung "Leider hatte ich recht". Die Zusammenführung von Arbeitslosensicherungssystem und Sozialsystem finde ich richtig. Aber ich habe schon damals darauf hingewiesen, dass durch den Zwang der Zumutbarkeit eine Fehlentwicklung auf den Arbeitsmärkten in Gang gesetzt wird.

sueddeutsche.de: Weil wenig Spielraum besteht und jeder zumutbare Job angenommen werden muss?

Hickel: Ja, das ist eine der massiven Triebkräfte für eine Spaltung am Arbeitsmarkt in Richtung Ausbau prekärer Arbeitsverhältnisse.

sueddeutsche.de: Die Spaltung am Arbeitsmarkt scheint Hessens Ministerpräsident Roland Koch nicht zu sehen, denn pünktlich zum Jubiläum fordert er eine "Arbeitspflicht" für Hartz-IV-Empfänger. Auch "niederwertige Arbeit" sei von den Arbeitslosen als Gegenleistung für die staatliche Unterstützung anzunehmen. Alles nur gezielte Provokation?

Hickel: Koch sei Dank! Denn damit wird klar, dass es dem neoliberalen Flügel in der CDU nicht um notwendige Korrekturen von Fehlentwicklungen der Hartz-IV-Programmatik zur Verbesserung der Entwicklungschancen von Betroffenen geht. Politisch populistisch wird erneut der Vorwurf der Faulenzer und Abzocker im Kreise der Hartz-IV-Empfänger bedient. Übrigens ist mir eine Kritik Kochs an der Gier und Abzockerei auf den Finanzmärkten nicht bekannt. Da wird wieder eine verschwindende, an Jobs nicht interessierte Minderheit zur weiteren Demontage von Sozialleistungen für Arbeitslose missbraucht. Die große Mehrheit bilden jedoch diejenigen, die gegen ihren Willen ihren Job durch unternehmerische Kündigung verloren haben. Am Ende landen motivierte und qualifizierte Menschen unverschuldet in der Einbahnstraße von Billigstjobs. Da wird das allgemeine Lohndumping zum politisch organisierten Prinzip.

sueddeutsche.de: Die Arbeitsmarktreform sollte damals der ganz große Wurf werden. Was genau ist aus Ihrer Sicht schiefgelaufen?

Hickel: "Arbeit ist besser als Arbeitslosigkeit" - das war der Schlüsselsatz von Schröder, Hartz und dem damaligen Wirtschaftsminister Wolfgang Clement. Der Satz hat am Anfang unglaublich beeindruckt, aber ich halte ihn für falsch. Natürlich ist Arbeit besser als Arbeitslosigkeit, aber eben nicht als jede Arbeit. Lohndumping über Leiharbeit beispielsweise ist nicht akzeptabel. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit mit Hartz IV ist um den Preis erfolgt, die sozialen Standards abzubauen. Wir haben durch Hartz IV verschlechterte Arbeitsverhältnisse bekommen, die nicht besser sind als Arbeitslosigkeit. Mein Devise lautet: Arbeit, aber sozial abgesichert. Übrigens hat die Deutsche Bundesbank darauf hingewiesen, dass durch dieses Lohndumping der private Konsum und damit die Binnenwirtschaft belastet werden.

sueddeutsche.de: Demnächst wird ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts erwartet. Kernelemente von Hartz IV werden die Prüfung möglicherweise nicht überstehen. Wird aus Hartz IV schon bald Hartz V? Oder stehen die Zeichen eher auf Reförmchen?

Hickel: Hartz IV muss grundsätzlich reformiert werden. Das Schonvermögen müsste noch einmal erhöht werden. Es muss eine offene Debatte darüber geführt werden, was jemandem, der Arbeitslosengeld II bezieht, am Ende von seinem über Jahre gebildeten Vermögen bleiben soll. Zweitens muss man über die Höhe des Hartz-IV-Satzes reden, drittens die Zumutbarkeit auflockern - das ist für mich der ordnungspolitisch entscheidende Punkt.

sueddeutsche.de: Die Zumutbarkeit auflockern - was heißt das konkret?

Hickel: Sie adäquater demjenigen gegenüber anpassen, der Arbeitslosengeld II bezieht. Ich habe Freunde, die davon betroffen sind, mit denen rede ich sehr viel darüber.

sueddeutsche.de: Was ist aus der ursprünglichen Maxime "Fördern und fordern" geworden?

Hickel: Wenn eine Bankangestellte ihren Job verliert und anschließend im Servierbereich landet, ist bei der Förderung und damit bei der Umschulung offensichtlich wenig oder gar nichts passiert. Das Fördern muss in den Vordergrund gestellt werden. Das Arbeitslosengeld gehört in die Hände von kompetenten Jobvermittlern, außerdem muss die individuelle Beratung viel stärker werden. Und es muss ein Qualifizierungsprogramm geben.

"Der Eiertanz der SPD"

sueddeutsche.de: Was passiert mit völlig unmotivierten Arbeitslosen, die überhaupt nicht arbeiten wollen?

Bundesagentur für Arbeit, ddp

2009 stürzte der Arbeitsmarkt trotz Krise nicht so stark ab wie von Experten befürchtet.

(Foto: Foto: ddp)

Hickel: Wenn akzeptable Angebote vorhanden sind und es keine Bereitschaft gibt, diese anzunehmen, kann man auch mit Sanktionen vorgehen.

sueddeutsche.de: Sigmar Gabriel erwägt ein höheres Schonvermögen für Ältere - ist das pure Parteitaktik des SPD-Vorsitzenden oder ein ernstzunehmender Vorstoß?

Hickel: Es ist sachlich gerechtfertigt. Unübersehbar ist der Eiertanz der SPD. Die Partei muss den Mut haben zu sagen, was bei Hartz IV falsch gelaufen ist. Wenn man den Fraktionsvorsitzenden Frank-Walter Steinmeier sieht, ist das fast eine Tragödie: Der lobt unverdrossen Hartz IV.

sueddeutsche.de: Weil er als rechte Hand von Ex-Kanzler Gerhard Schröder das Hartz-Konzept mit ausgearbeitet hat.

Hickel: Weil er mitbeteiligt war, okay. Mir geht es um den sozialdemokratischen Mut, den gordischen Knoten von Mittäterschaft, kritischen Erfahrungen und heutigen Anforderungen zu durchschlagen. Denn die Siegesformel ist falsch: Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Jobs ist gestiegen, aber es sind prekäre Jobs geworden, es sind Armutsjobs. Die Arbeitslosigkeit ist auch zurückgegangen, weil der Zwang, in schlechtere, aber sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse zu wechseln, zugenommen hat.

sueddeutsche.de: Und weil all jene, die sich umschulen lassen, in der Statistik nicht berücksichtigt werden.

Hickel: Schönen Dank für den Hinweis. In der Tat: Die Statistik ist mit ganz vielen Maßnahmen geschönt worden.

sueddeutsche.de: Fehlt der SPD der Mut oder die Kraft, die Grundfehler der Agenda 2010 einzugestehen?

Hickel: Das ist ein ideologischer innerparteilicher Kampf. Die sogenannte moderne SPD steht für die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Einige von denen haben aber nichts begriffen. Im Grunde genommen machen sie eine Politik, die kein sozialdemokratisches Profil mehr hat. Es fehlt der Mut, mal richtig Tabula rasa zu machen und eine gut begründete Position zu beziehen. Steinmeier hat meines Erachtens aus der Fehlentwicklung überhaupt nichts gelernt.

sueddeutsche.de: Der oberste Wirtschaftsweise Wolfgang Franz sagt: Ein um 30 Prozent reduzierter Hartz-IV-Regelsatz auf 251 Euro monatlich reiche aus, wenn im Gegenzug die Hinzuverdienstmöglichkeiten ausgebaut würden. Gehen Sie d'accord?

Hickel: Nein, überhaupt nicht, denn das würde ja bedeuten, dass die Billigjobs den Unternehmen noch versüßt würden. Es wäre ein Lohn-Kombi-Modell: Die Grundsicherung macht der Staat, und auf der anderen Seite wird etwas hinzuverdient. Das ist das falsche Modell. Es verstärkt den Druck in der Wirtschaft, Löhne noch weiter abzusenken. Meine Sorge ist: Am Ende würde die Grundsicherung weiter reduziert, die Zuverdienstmöglichkeiten reichen nicht aus, und der Staat müsste mit einem Aufstockungsprogramm aus Steuermitteln die Fehlentwicklung kompensieren. Es wäre eine Kapitulation vor der Lohnpolitik auf den Arbeitsmärkten. Deshalb brauchen wir eine Debatte über den Mindestlohn, daran kommen wir gar nicht vorbei.

sueddeutsche.de: Gibt es auf dem deutschen Arbeitsmarkt überhaupt diese Hinzuverdienst-Jobs?

Hickel: Nein, deshalb kommt es zum Schlecker-Effekt, das heißt aus Normaljobs werden Billigjobs.

Der Wiederaufstieg - einfach "faszinierend"

Angela Merkel, Barack Obama, Reuters

Barack, wie machst Du das nur mit den Banken? Kanzlerin Angela Merkel und US-Präsident Obama Anfang November im Weißen Haus.

(Foto: Foto: Reuters)

sueddeutsche.de: Der Arbeitsmarkt ist im Krisenjahr 2009 nicht so stark abgeschmiert wie befürchtet. Hätte der ohnehin völlig überschuldete Staat die Milliarden-Subventionen für die Kurzarbeit besser gespart?

Hickel: Hätte es das Kurzarbeitergeld in der ersten und zweiten Fassung nicht gegeben, wäre der Absturz erheblich spürbarer geworden. Rückblickend war das eine kluge Maßnahme zur Überbrückung. Unternehmen haben im Vergleich zu früher nicht gleich Personal abgebaut, das ist ein echter Lernprozess. Entscheidend wird jetzt aber sein, dass die Brücke irgendwann wieder in neue Beschäftigungsverhältnisse überführt.

sueddeutsche.de: Wie lautet Ihre Prognose für den deutschen Arbeitsmarkt? Kommt es zum "Double-Dip", also einem zweiten Abschwung und in dessen Folge zu deutlich mehr Arbeitslosen?

Hickel: Es könnte beim Umschalten auf eine restriktive Finanzpolitik zu einem "Double-Dip" kommen. In jedem Fall aber wird die Arbeitslosigkeit in der zweiten Jahreshälfte steigen. Der prekäre Sektor wird sich weiter vergrößern, die mit Erwerbsarbeit verbundene Armut zunehmen. Die Politik müsste klar gegensteuern, aber das ist von dieser Bundesregierung nicht zu erwarten. Sie agiert mit ihrer unsinnigen Steuersenkungsdiskussion völlig falsch und ist durch die FDP überhaupt nicht mehr bewegbar.

sueddeutsche.de: Da spricht der Pessimist Hickel! Die jüngste Bruttoinlandsprognose verspricht für 2010 immerhin ein Wachstum von 1,5 Prozent. Lässt Sie das kalt?

Hickel: Ich weiß gar nicht, ob ich Pessimist bin. Ich halte 1,5 Prozent aber für realistisch.

sueddeutsche.de: Ein verkapptes Lob für das Krisenmanagement der Bundesregierung?

Hickel: Ich finde es wirklich faszinierend, wie schnell dieser ökonomische Absturz vorbei war und wie er jetzt in einer leichten Erholung mündet. Von daher ein ganz großes Kompliment an Kanzlerin Merkel und den früheren Finanzminister Peer Steinbrück! Sie haben einen ideologiefreien, unkonventionellen Schwenk in Richtung Konjunkturstabilisierung geschafft. Allerdings fehlt die wichtigste Voraussetzung für eine stabile wirtschaftliche Entwicklung: ein gesundes Finanzsystem. Das Wirtschaftswachstum wird auch nicht selbsttragend sein, ihm fehlt die Eigendynamik.

sueddeutsche.de: Auf was muss sich die Bevölkerung 2010 einstellen?

Hickel: Es gibt weiter Probleme mit der Kreditvergabe über die Hausbanken - trotz der Hilfen von der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Außerdem nehmen die Spekulationsgeschäfte schon wieder zu, da kann sich schnell eine neue Blase entwickeln. Da bin ich pessimistisch.

sueddeutsche.de: Angeblich gibt es doch gar keine Kreditklemme.

Hickel: Das ist ein Glaubenskrieg. Man muss genau definieren, was man meint. Die Abarbeitung toxischer Produkte scheint mir erledigt, obwohl es bei einigen Banken noch Probleme gibt. Wir haben erhebliche Erschwernisse bei der Besorgung von Krediten, die unter normalen Bedingungen vor der Finanzmarktkrise nicht gegeben waren.

sueddeutsche.de: In den USA lässt der Präsident die Banken bluten, weil die Steuerzahler ihr Geld zurückbekommen sollen. Brauchen wir in Deutschland ein bisschen mehr Obama?

Hickel: Wir benötigen erheblich mehr Obama. Die für die Banken gegebenen Hilfen müssen von denen sukzessive zurückgezahlt werden. Außerdem brauchen wir die Kritik an den Bonuszahlungen. Entweder werden Boni stärker besteuert, oder man muss die Spekulationsgeschäfte so einschränken und verbieten, dass es überhaupt keine Spekulationsboni mehr gibt. Da können sich die Banker wälzen wie sie wollen, nur so wird dem Spekulationsgeschäft das Handwerk gelegt. Eine Möglichkeit wäre auch die Beschränkung der Mehrfachverpackung von Krediten, die es jetzt bereits wieder gibt.

sueddeutsche.de: In den USA soll ein Untersuchungsausschuss klären, wie es zum Crash des Kapitalismus kommen konnte. Ein Beispiel für Deutschland?

Hickel: Ich würde mir zuerst einmal eine regierungspolitisch organisierte Aufarbeitung der Krisen-Ursachen wünschen. Zweitens müsste in einem Ausschuss speziell die Rolle und das Fehlverhalten der Banken geklärt werden. Banker wie etwa Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann sollten dabei anwesend sein.

sueddeutsche.de: Eine hübsche Vorstellung: Erst richtet Merkel ihrem zeitweiligen Einflüsterer Ackermann eine Geburtstagsparty aus, später muss er auf die Zeugenbank.

Hickel: Das wird schwer durchsetzbar sein. Die Politik will sich mit den Banken nicht anlegen, sie will von den Instituten geschätzt werden. Das macht das Vorhaben so schwierig. Es mangelt an politischem Mut, Konflikte zu fahren. Zum politischen Mut gehört auch, den Liebesentzug von Bankenbossen geduldig zu ertragen.

sueddeutsche.de: Das klang jetzt gerade so, als ob Sie befürchteten, Josef Ackermann könnte weit weniger verdienen. Sein Institut hat kein direkte Staatshilfe aus dem Rettungsfonds Soffin in Anspruch genommen, Ackermann muss also nicht mit einer Gehaltsbegrenzung von 500.000 Euro rechnen.

Hickel: (lacht) Es gibt keine ökonomischen Theorien zur Höhe von Managergehältern, das ist Dschungel-Ökonomie. Jeder versucht das meiste herauszuholen.

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