Ökonom Norbert Walter im Interview:"Man muss die Klugheit des Marktes bezweifeln"

Die Sozialleistungen werden infolge der Krise gekürzt werden, erklärt Norbert Walter. Der langjährige Chefvolkswirt der Deutschen Bank rechnet im SZ-Gespräch mit den Verursachern der Misere ab - und denkt über einen neuen Job für Kanzlerin Merkel nach.

Hans-Jürgen Jakobs und Oliver Das Gupta

Immer wieder hat Norbert Walter, 67, die Wirtschaft erklärt. Als langjähriger Chefvolkswirt der Deutschen Bank ist er eine Autorität. Dem promovierten Ökonomen half dabei seine Erfahrung in großen Forschungsinstituten. 2009 hat Walter eine Beratungsfirma gestartet.

Norbert Walter  Chefvolkswirt Deutsche Bank

Arbeitete viele Jahre als Chefvolkswirt der Deutschen Bank: Norbert Walter

(Foto: picture alliance / dpa)

Süddeutsche Zeitung: Herr Walter, in Ihrem Buch zur Finanzkrise fragen Sie: "Wer soll das alles bezahlen?" Die Bürger auf der Straße, auch die "Occupy Wall Street"-Bewegung, glauben die Antwort schon zu kennen: "Wir natürlich, die Steuerzahler!"

Walter: Steuern zahlt in Deutschland weniger als die Hälfte der Bevölkerung. Der andere große Teil der Bevölkerung besteht aus Transferempfängern. Die Lasten der Krise treffen gemäß der Äußerungen der Kritiker also diejenigen, die gemäß unserer Staatsdefinition leistungsstark sind. Das erwähne ich vorweg - weil alle die, die munter Sozialleistungen empfangen, sich auch unter diejenigen mischen, die beleidigt feststellen: Wir Steuerzahler zahlen die Zeche.

SZ: Und wird es am Ende so sein: Die Steuerzahler blechen?

Walter: Ja, aber nicht nur die: Am Ende wird es natürlich so sein, dass die heutigen Transferempfänger durch das Geld, mit dem jetzt Griechenland, die Banken und weitere Opfer der Krise gerettet werden, auch betroffen sein werden.

SZ: Sie prophezeien, dass Sozialleistungen gekürzt werden?

Walter: Darauf läuft es hinaus. Staatliche Transfers werden infolge der Krise eingeschränkt werden. Nicht nur die Steuern zahlenden Leistungsträger wird es treffen. Viele vermuten ja zudem, dass alle über den Verlust des Geldwertes bezahlen, über die Inflation. Dies ist in meinem Urteil denkbar, aber nicht wahrscheinlich. Die Frage "Wer soll das bezahlen?" insinuiert übrigens noch etwas: Die Schuldigen zahlen nicht. Das wäre das eigentlich Schmerzhafte.

SZ: Sehen Sie das auch so: Dass die Schuldigen außen vor bleiben?

Walter: Ja, zum Teil ist das leider zutreffend, auch deshalb, weil diese auch ihre eigenen Vermögen verwirtschaftet haben.

SZ: Wer trägt Schuld an der Krise?

Walter: All jene, die Risiken eingegangen sind, die sie nicht überblickt haben und die für die Risiken nicht vorgesorgt haben. All jene, die die Haftung für ihre Verschuldung nicht leisten konnten - obwohl dies selbstverständlich sein sollte.

SZ: Meinen Sie die Regierungsverantwortlichen in Griechenland und Italien oder Bankmanager?

Walter: Es sind beide: Diejenigen, die in Finanzinstituten solche kaum bedienbaren Staatsanleihen in ihre Bilanz genommen haben - aber auch jene, die statt solide zu finanzieren staatliche Ausgaben mit Schulden ermöglichten. Natürlich gibt es auch eine Mitverursachung durch die staatlichen Aufsichtsbehörden. Es kam in Deutschland auch nicht unerwartet, dass staatliche Finanzinstitute in besonderer Weise solche jetzt entwertenden Papiere in ihren Bilanzen haben. Ich will die Mitverschuldung der Zentralbanken und Aufsichtsbehörden nicht kleinschreiben. Am Ende aber würde ich sagen: In den Finanzinstituten - auch in den staatlich geführten - waren Leute mit Hochschulabschlüssen, mit qualifizierter Ausbildung tätig. Sie nahmen ihre Verantwortung nicht wahr.

SZ: Auf der anderen Seite wurden Griechenlandanleihen bis vor kurzem auf den Märkten ähnlich bewertet wie deutsche Staatsanleihen. Das Risiko wurde nicht abgebildet.

Walter: Hier haben die Risikomanager in den Finanzinstituten versagt. Denn die müssen solche Risiken unabhängig beurteilen - und hätten dabei kritischer sein sollen.

"Man muss die Klugheit des Marktes bezweifeln"

SZ: Wer ist schon gern schlauer als der Markt?

Athen Finanzkrise Euro

Ehrengarde vor den Ruinen des Parthenons auf der Akropolis.

(Foto: dpa)

Walter: Erfahrene Manager, insbesondere Risikomanager, hätten warnen müssen.

SZ: Haben Sie in einer vergleichbaren Situation das Risiko erkannt?

Walter: Allerdings. 1991 haben meine Investment-Banker und ich im New Yorker Plaza Hotel über eine neue Russland-Anleihe diskutiert. Die Kollegen sagten: 'Herr Walter, das Produkt geht weg wie warme Semmeln, es ist ideal, die Kunden werden glücklich sein.' Es handelte sich um Anleihen mit 127 Basispunkten Risikoprämie. Ich warnte, das sei unerträglich, das sei viel zu wenig für ein Land wie Russland unmittelbar nach dem Ende der Sowjetunion. Ich sollte damals mithelfen, diese Anleihen zu verkaufen. Da sagte ich: 'Ich marschiere hier raus, und Sie erklären den Kunden, warum ich fehle.' Ein Kollege spottete damals: 'Sie behaupten, Sie wüssten mehr als der Markt.'

SZ: Muss man Märkten grundsätzlich ein Stück misstrauen?

Walter: Man muss die Hypothese von effizienten Märkten, die Ökonomen seit den siebziger Jahren unerschrocken vertreten haben, kritisch hinterfragen. Mittlerweile gibt es viel Evidenz für die Existenz von Panik und Herdenverhalten. Man muss also die Klugheit des Marktes bezweifeln. Das bedeutet nicht, dass der Markt nichts leistet. Aber er leistet im Notfall nicht das, was man ihm nachgesagt hatte.

SZ: In Ihrem Buch schreiben Sie: Griechenland soll so lange gestützt werden, wie andere Länder Gefahr laufen, angesteckt zu werden. Das ist bislang das Mantra der Politik: Zeit kaufen. Das ist ins Leere gelaufen?

Walter: Es gibt sehr wohl Verhaltensänderungen in Ländern mit hoher Staatsverschuldung oder hoher privater Verschuldung. In einigen Ländern sind offenkundig die Gegenmaßnahmen auf gutem Weg, zum Beispiel in Irland. Es gibt auch Fälle, wo man unsicher ist, ob es zur Stabilisierung kommt - Beispiel Griechenland.

SZ: Wie ist das Problem Griechenlands am besten zu lösen?

Walter: Erstens: Solidarität in Europa mobilisieren. Zweitens: Konstruktiv den Griechen bei good governance helfen. Das Land muss steuereffektiv werden. Und staatliche Unternehmen müssen sachgerecht und nicht in fire sales privatisiert werden, um den Schuldenstand zu reduzieren. Und schließlich gilt es, den griechischen Bürgern die Notwendigkeit zu vermitteln, dass das Land wirtschaftspolitisch zeitweise nicht mehr souverän ist - weil es vom Steuerzahlergeld anderer Länder lebt.

SZ: Die EZB hat lebhaft über die Krisenrettung diskutiert. Hätten Sie den Deutschen Axel Weber und Jürgen Stark zugestimmt, die vor dem Kauf von Staatsanleihen warnten - und dann Reißaus nahmen?

Walter: Inhaltlich bin ich auf der Seite von Weber und Stark. Aber die Entscheidung, zu gehen, halte ich für unverantwortlich. So etwas tun Kapitäne nicht, nicht in einer solchen Lage. Sie haben das Problem verschärft.

SZ: Originäre Aufgabe der EZB ist es nun einmal, die Geldwertstabilität zu hüten und nicht Staaten zu finanzieren.

Walter: Davon müssen Sie weder Jean-Claude Trichet, noch seinen Nachfolger Mario Draghi überzeugen. Natürlich ist es nicht Aufgabe der Zentralbank, Junk Bonds in die Bilanz zu nehmen. Das ist eine Todsünde. Wenn aber europäische Parlamente und Regierungen nicht rechtzeitig Dämme bauen, um zu verhindern, dass die Währung zusammenbricht, was dann? Als Zwischenlösung sind die Anleihenkäufe zu tolerieren - auch wenn sie gegen europäische Verträge verstoßen. Trichet hat richtig gehandelt: Man darf Europa nicht über die Wupper gehen lassen.

SZ: Sie erwarten, dass sich auch unter Draghi nichts ändert an der EZB-Politik?

Walter: Ich befürchte, dass die Maßnahmen der Regierungen und die Zustimmungen der Parlamente für die Herausforderungen der Finanzmärkte auch im Verlaufe der nächsten Zeit keine ausreichende Antwort liefern werden. Ich vertrete diese Einschätzung auch nach der im Ganzen beeindruckenden Rettungsaktion der Regierungen in Brüssel. Und ich befürchte deshalb, dass es Druck auf die EZB zur Bereitstellung von Mitteln geben wird, die den Charakter von Ersatzeigenkapital haben. Ich vermute, dass die Orthodoxen in unserem Land, die Herren Nationalökonomen, die Verfassungsrechtler und die Populisten in den politischen Parteien der EZB ein solches Handeln verbieten wollen. Noch einmal: Im Notfall darf die EZB die Währungsunion auch mit zeitweisen Vertragsverletzungen retten, am besten freilich mit der deutlichen Aufforderung, dass die Solvenzsicherung die Aufgabe der gestaltenden und demokratisch legitimierten Politik ist und deshalb dort zu leisten ist.

SZ: Die EZB kauft immer mehr Staatsanleihen aus Krisenländern. Läuft sie nicht Gefahr, irgendwann ihre eigene Bilanz fundamental korrigieren zu müssen?

Walter: Die Europäische Zentralbank wird wegen dieser Geschäfte selbst zur Risikobank - sie ist sich dessen bewusst. Deshalb hat sie den Finanzministern gegenüber deutlich gemacht, dass das Eigenkapital der EZB deutlich aufgestockt werden muss, falls diese Dinge so weiter laufen.

"Leerverkäufe sind kein Instrument des Teufels"

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit Vizekanzler Philipp Rösler (FDP) Euro-Rettung Griechenland

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit Vizekanzler Philipp Rösler (FDP)

(Foto: dpa)

SZ: Es gibt Stimmen, die den einzigen Ausweg aus der Krise in einer Flucht nach vorne sehen: hin zu einer Konföderation. Wie sehen Sie die Zukunft der EU?

Walter: Europa ist ein Schatz. Wir sollten über die Vereinigten Staaten von Europa nachdenken. Ein Europa, in dem ein begrenztes Budgetrecht - etwa wie in der Schweiz im Berner Parlament - beim Europäischen Parlament liegt.

SZ: Derzeit herrscht eher Katerstimmung denn Euphorie. Wie können die oft europamüden und europaskeptischen Bürger überzeugt werden?

Walter: Das ist Aufgabe der Eliten aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. Sie haben die schwere Aufgabe, ein noch nicht existierendes, europäisches Staatsvolk zu schaffen.

SZ: Ausgerechnet den Eliten stellen Sie in Ihrem Buch ein Armutszeugnis aus.

Walter: Dabei bleibe ich auch. Aber dennoch wäre es ihre Aufgabe. Ich sehe aber auch eine qualifizierte Minderheit, die unermüdlich für die europäische Idee ackert, die nicht aufgibt.

SZ: An wen denken Sie?

Walter: Etwa an Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble - ein bewunderungswürdiger Mann in diesen Zeiten. Angela Merkel zähle ich ebenso dazu wie Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück. Die beiden Sozialdemokraten könnten übrigens gerade jetzt ziemlich billig Punkte machen, indem sie die schwarz-gelbe Chaostruppe vorführen - machen sie aber nicht. Steinmeier und Steinbrück wackeln nicht in ihrer proeuropäischen Ausrichtung. Hut ab!

SZ: Welche europäische Institution könnte in absehbarer Zeit zum handlungsfähigen Akteur werden?

Walter: Vielleicht die EU-Kommission - wenn man ihr von Seiten der Regierungen besseres Personal gewährt.

SZ: Wen meinen Sie damit?

Walter: Vielleicht wird ja unsere Bundeskanzlerin von Berlin nach Brüssel wechseln. In zwei Jahren.

SZ: Das impliziert: Angela Merkel wird nicht mehr gewählt. Und: Sie hat Lust auf die Aufgabe.

Walter: Beides könnte sein. Vielleicht ist sie auf dem Weg.

SZ: Jetzt soll es einen großen Wurf geben - ein Dreiklang aus Schuldenschnitt, einem auf Billionen-Größe aufgeblasenen Rettungsschirm und gleichzeitig der Rekapitalisierung der Banken - alles auf einmal. Ist das realistisch?

Walter: Wenn die Feuerwehr einen Brand befürchtet, ist es gut, wenn sie ein ausreichend großes Wasserreservoir hat. Wenn jemand Schleusentore aufmachen möchte, sollten vorher ausreichend stabile Dämme gebaut worden sein. Dämme müssen aber nicht nur immer Geldbeträge sein: Die Verankerung einer europäischen Schuldenbremse oder die Bereitschaft, staatliche Souveränität einzuschränken, können ebenso wirksame Dämme sein. Ich fürchte, dass die Dämme noch nicht gebaut sind, wenn jemand die Schleusentore öffnet. Und ich warne davor, Schleusentore aufzumachen, bevor der Damm steht - oder besser zwei Dämme hintereinander. Fakt ist übrigens auch: Die lautstarke Erörterung von Szenarien wie die einer Pleite Griechenlands hat die Risikoprämien für Anleihen aus Spanien und Italien noch einmal deutlich erhöht.

SZ: FDP-Chef und Wirtschaftsminister Philipp Rösler erörterte eine Griechenland-Pleite öffentlich kurz vor der Berlin-Wahl - und wurde von der Kanzlerin gerüffelt. Die FDP verbat sich daraufhin "Denkverbote".

Walter: Nachdenken kann man über alles, aber man muss nicht immer auch gleich öffentlich darüber reden. Generell gilt: Es ist klüger, wenn man manchmal lieber etwas länger nachdenkt, als sofort draufloszuplappern.

SZ: Es gibt ja auch Stimmen, die hinter der Krise eine Art Wirtschaftskrieg vermuten, etwa zwischen den USA und Europa. Was halten Sie von solchen Behauptungen?

Walter: Derzeit sieht es so aus, als ob das nicht mehr nur eine konspirative Hypothese ist. Einiges deutet darauf hin, dass das nicht völlig aus der Luft gegriffen ist. Die USA stehen vor entscheidenden Wahlen und sind deshalb wohl bereit, auch eine Rufschädigung für Europa in Kauf zu nehmen. Ich sehe sogar Nobelpreisträger der Ökonomie, die sich an solchen Aktivitäten beteiligen. An sich halte ich solche Verdächtigungen allerdings für übertrieben: Den Amerikanern hilft es nicht, wenn es den Europäern schlecht geht, umgekehrt auch nicht. Das wäre so kindisch und unreif, dass es mich graust.

SZ: Herr Walter, die Ratingagenturen erschweren mit Ihren Wertungen die Rettungsmaßnahmen oder machen sie zunichte. Haben Sie einen Tipp, was man tun kann?

Walter: Das Beste wäre, wenn der Regulator sagen würde, von wem die Agenturen nicht bezahlt werden dürfen. Nämlich von ihren Komplizen - von denjenigen, die Wertpapiere emittieren.

SZ: Was halten Sie von einer Finanztransaktionssteuer?

Walter: Eine solche Steuer hat wohl nur eine beruhigende Wirkung, wenn sie auf allen relevanten Märkten eingeführt wird. Kontinentaleuropa reicht nicht - ohne die Briten geht es nicht. Im Übrigen halte ich auch grundsätzlich eine Finanztransaktionssteuer für eine schlechte Lösung. Wenn Ingenieure einem überdrehenden Motor Sand ins Getriebe werfen, verlangsamt das zwar auch den Motor, aber nicht ohne Schäden.

SZ: Kennen Sie eine Alternative?

Walter: Man könnte das sicherlich intelligenter steuern. Beispielsweise indem man sagt: Hohe Risiken bedeuten hohe Eigenkapitalunterlegung.

SZ: Leerverkäufe könnte man mit einer Transaktionssteuer wirksam drosseln.

Walter: Leerverkäufe sind kein Instrument des Teufels. Sie sind gefährlich, wenn sie beliebig mit geborgtem Geld finanziert sind. Mit anderen Worten: Man sollte einfach die Kredithebel kleiner machen.

Einer der Autoren debattiert unter twitter.com/oliverdasgupta

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: