Süddeutsche Zeitung

OECD:25 Millionen Arbeitslose mehr

Die OECD befürchtet bei zweiter Infektionswelle sogar fast 50 Millionen zusätzliche Stellensuchende. Deutschland kommt bisher gut davon.

Von Alexander Hagelüken

Die Corona-Pandemie wird die Arbeitslosigkeit in den Industriestaaten fast verdoppeln. Die Organisation OECD erwartet, dass die Zahl der Stellensucher in diesem Jahr um etwa 25 Millionen auf mehr als 60 Millionen steigt. Dabei vergrößert sich die Ungleichheit: "Wenigverdiener zahlen den höchsten Preis." Deutsche Arbeitnehmer kommen wegen der Reaktion der Bundesregierung auf die Krise vergleichsweise gut weg.

Die 37 OECD-Mitglieder, zu denen alle großen Industrie- und einige Schwellenländer zählen, hatten Anfang dieses Jahres einen neuen Arbeitsmarktrekord erzielt. Dann schlug Corona zu und zerstörte fast die gesamten Beschäftigungserfolge seit der Finanzkrise 2008. Die Gesundheitsmaßnahmen gegen die Pandemie haben nach Berechnungen der OECD Hunderttausende, möglicherweise Millionen Tote verhindert. So nötig sie waren, sie bremsten die Wirtschaft schwer. "Die Pandemie wirft einen langen Schatten auf die Welt", sagt Generalsekretär Angel Gurría.

Für die mehr als 650 Millionen Arbeitnehmer der OECD-Staaten hat das dramatische Folgen. Die Arbeitslosenrate dürfte in diesem Jahr von 5,3 auf 9,4 Prozent zunehmen - ein historischer Höchstwert. Bereits im Mai waren 55 Millionen Menschen arbeitslos. Im nächsten Jahr falle die Rate dann unter acht Prozent. Kommt es dagegen überall zu einer zweiten Infektionswelle mit massiven Einschränkungen der Wirtschaft, steige die Arbeitslosenrate in diesem Jahr auf mehr als zwölf Prozent. Dann würde sich die Zahl der Stellensucher um etwa 45 auf gut 80 Millionen erhöhen.

Der Unterschied zwischen den Szenarien lässt sich auch am realen durchschnittlichen Einkommen der Menschen ablesen. Bleibt es bei einer ersten Infektionswelle, schrumpft der Verdienst in den meisten Staaten auf das Niveau von 2016. Bei einer zweiten Welle fällt er auf 2013 zurück.

Deutsche Arbeitnehmer sind in einer besseren Situation als die meisten Kollegen in der Welt. Die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik war vor der Krise so niedrig wie in keinem anderen großen Industriestaat außer Japan. Durch die Pandemie werde die Beschäftigung in Deutschland weniger als ein Viertel so stark schrumpfen wie im Durchschnitt der Mitgliedstaaten. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung rechnet im Jahresschnitt mit 2,8 Millionen Arbeitslosen, eine halbe Million mehr als 2019. Das wäre angesichts von etwa 25 Millionen Arbeitslosen mehr in den Industriestaaten relativ wenig. Die OECD erklärt die bessere deutsche Lage durch mehrere Faktoren: Viele Corona-Tests, ein gutes Gesundheitssystem, zwei große wirtschaftliche Hilfspakete und die massive Ausweitung der Kurzarbeit.

Viele Staaten versuchten, das deutsche Kurzarbeitsmodell zu kopieren. Die OECD regt allerdings an, die Bundesregierung müsse die Kurzarbeit anpassen, falls die Corona-Krise länger bestehen sollte. Denn dann bestehe die Gefahr, dass Beschäftigte in nicht mehr zukunftsfähigen Firmen hängen blieben, anstatt den Job zu wechseln.

Wer wenig verdient, den trifft die Krise in Deutschland wie in anderen Industriestaaten weit härter. OECD-weit haben jene 25 Prozent mit den niedrigsten Einkommen doppelt so oft keine Arbeit mehr wie Gutverdiener. Sie können auch weit seltener im Home-Office arbeiten und steckten sich deshalb häufiger mit Corona an, wie sich an Fleischfabriken zeige. Die OECD fordert deshalb für sie einen besseren Gesundheitsschutz.

Wer wenig Geld verdient, arbeitet selten im Homeoffice und steckt sich häufiger mit Corona an

Insgesamt seien Frauen, Migranten und Jüngere besonders stark von der Krise betroffen. Gurría fordert die Regierungen auf, sich um diese Gruppen zu kümmern, gerade auch um den Absolventenjahrgang Corona. "Die Krise darf keine verlorene Generation produzieren, deren Berufsweg dauerhaft beschädigt wird." Nach der Finanzkrise 2008 hätten sich die Regierungen viel zu spät um die Jüngeren gekümmert, was lang anhaltende Narben verursacht habe, die immer noch sichtbar seien.

In Europa könnte die Zahl junger Arbeitsloser von 2,8 auf 4,8 Millionen ansteigen, wenn nicht gegengesteuert wird, rechnen Johann Bacher von der Uni Linz und Dennis Tamesberger von der Arbeiterkammer vor. Sie fordern daher eine neue EU-Jugendgarantie. Das Instrument wurde 2013 eingeführt, um allen unter 25 Jahren in den ersten vier Monaten Arbeitslosigkeit eine Beschäftigung, Bildung oder Schulung anzubieten. Diesmal müsse mit 50 Milliarden Euro pro Jahr deutlich mehr Geld zur Verfügung gestellt werden.

Wer arbeitslos ist, dessen Leben verschlechtert sich generell oft sehr. "In einer Studie haben wir festgestellt, dass die psychischen Probleme um 8,9 Prozentpunkte zunehmen, wenn Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren", sagt Laura Pohlan vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung. Die Lebenszufriedenheit sinke um sieben Prozentpunkte. Wenn die Arbeitslosigkeit länger andauert, würden die negativen sozialen Auswirkungen für die Betroffenen weiter zunehmen.

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SZ vom 08.07.2020
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