Als die Gerichtsvollzieherin an die Tür klopfte, war es schon zu spät: Rosemarie F. hatte ihre Mietwohnung in Berlin wenige Tage vor der Zwangsräumung bereits verlassen. Kurze Zeit später starb die 67-jährige Rentnerin in einer Obdachlosenunterkunft. Die alte Dame hatte Mietrückstände gehabt, ihre Post nicht mehr geöffnet, einen wichtigen Gerichtstermin versäumt.
Der Fall, den das Berliner Protestbündnis "Zwangsräumung verhindern" publik machte, liegt zwar schon einige Jahre zurück. Doch er führt mittenhinein in die Misere von Menschen, die ihre Wohnung verlieren: Sie stecken oft in einer wirtschaftlichen Notlage, sind überschuldet oder schon lange arbeitslos. Häufig kommen familiäre Konflikte hinzu, Scheidungen oder Trennungen. Der Kontakt zu den eigenen Kindern ist meist abgerissen. Alkohol, Drogen oder psychische Erkrankungen verschlimmern die Probleme. "Nicht selten kommt eine allgemeine Überforderung bei der Bewältigung des Lebens als Ursache für einen Wohnungsnotfall hinzu", heißt es im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ( hier als PDF).
Schicksale wie das von Rosemarie F. gehören in Deutschland längst zum Alltag. Allein in Berlin soll es 5000 Zwangsräumungen pro Jahr geben. Und immer mehr Menschen sind wegen der Wohnungsnot in vielen Städten der Republik obdachlos oder ohne Wohnung. Das zeigen die neuen Zahlen, die die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe am Dienstag in Berlin vorgelegt hat. Demnach lebten im vergangenen Jahr etwa 52 000 Menschen in Deutschland ohne jede Unterkunft auf der Straße, 2014 waren es noch 13 000 weniger. Deutlich größer ist die Zahl derjenigen, die nur als wohnungslos gelten, aber meist irgendein Dach über dem Kopf haben. Ihre Zahl wuchs 2016 auf 860 000 Menschen. Seit 2014 ist dies ein Anstieg um 150 Prozent oder mehr als 500 000, was vor allem auf die vielen Flüchtlinge zurückzuführen ist, die bislang vergeblich eine feste Bleibe für sich suchen.
Der Verband prognostiziert sogar, dass sich diese Zahl bis 2018 um weitere 350 000 auf 1,2 Millionen Menschen erhöhen wird. Thomas Specht, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft, sagt: "Die Zuwanderung hat die Gesamtsituation dramatisch verschärft, aber die wesentlichen Ursachen für Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit liegen in einer seit Jahren verfehlten Wohnungspolitik in Deutschland".
"Das Angebot an bezahlbarem Wohnraum ist unzureichend"
Die Arbeitsgemeinschaft, ein vom Bund mitfinanziertes Bündnis verschiedener Sozialorganisationen, die sich um Wohnungslose kümmern, unterteilt die Wohnungslosen in zwei Gruppen: Etwa die Hälfte sind Flüchtlinge, die überwiegend in Gemeinschaftsunterkünften leben. Die andere Hälfte hat ebenfalls kein festes Zuhause für sich, ohne zu den Geflüchteten zu gehören. Über diese zweite Gruppe weiß man aus den Angaben von 176 Einrichtungen und Diensten der bundesdeutschen Wohnungslosenhilfe, die die "Wohnkarrieren" von mehr 33 000 Hilfesuchenden analysiert haben: Mehr als zwei Drittel sind alleinstehend und männlich. 27 Prozent erhielten ihre Kündigung durch den Vermieter. Fast die Hälfte ist von selbst mit oder ohne Kündigung aus der Wohnung ausgezogen.
Auf dem Wohnungsmarkt sieht Geschäftsführer Specht vor allem zwei Probleme. Erstens: "Das Angebot an bezahlbarem Wohnraum ist unzureichend." So ist der der Bestand an Sozialwohnungen seit 1990 um etwa 60 Prozent zurückgegangen. Derzeit gibt es in Deutschland noch etwa 1,4 Millionen Sozialwohnungen. Früher sah das deutlich besser aus: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden neun Millionen Sozialwohnungen gebaut, im Jahr der Volkszählung 1987 gab es allein im Westen des Landes immerhin noch etwa vier Millionen. Seitdem werden es immer weniger. Jedes Jahr läuft für mehr als 50 000 Sozialwohnungen die Mietpreisbindung aus.
Das Verbändebündnis Wohnen, dem neben dem Deutschen Mieterbund und der IG BAU vier weitere Verbände der Bau- und Immobilienbranche angehören, fordert deshalb, 80 000 Sozialwohnungen im Jahr zu bauen. Tatsächlich wurden 2015 bundesweit gerade einmal 17 296 Sozialwohnungen errichtet. Zusätzlich haben viele Kommunen, Länder und der Bund ihre eigenen Wohnungsbestände an große Immobilienkonzerne und andere private Investoren verkauft, die sich naturgemäß vor allem für ihre Rendite interessieren. "Damit haben sie Reserven bezahlbaren Wohnraums aus der Hand gegeben", kritisiert Specht.
Singles finden kaum passende, günstige Wohnungen
Problem Nummer zwei: Es fehlen Millionen von Kleinwohnungen. Die starke Gruppe der Single-Haushalte fragt in den Städten nach günstigen Ein- und Zwei-Zimmer-Wohnungen. Doch die fehlen häufig. Das habe dazu beigetragen, dass die Mietpreise extrem gestiegen sind, sagt Specht. Dieter Puhl, der mit der evangelischen Bahnhofsmission am Berliner Zoo die größte deutsche Bahnhofsmission leitet, hält das Wohnen mittlerweile sogar für das größte soziale Problem in Deutschland. "Vor 20 Jahren konnten in Berlin noch Gering- oder Durchschnittsverdiener problemlos ihre Miete zahlen. Heute wird das bei Neuanmietung einer Wohnung zunehmend schwierig, weil viele Menschen immer mehr von ihrem Einkommen für die Miete ausgeben müssen", sagt er.
Karin Kühn, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, fordert eine mögliche Jamaika-Koalition deshalb auf, "die Lebenslagen von verarmten und wohnungslosen Menschen endlich zur Kenntnis zu nehmen". In einen Koalitionsvertrag gehörten Sofortmaßnahmen gegen einen weiteren Anstieg der Wohnungslosigkeit. Der Verband wünscht sich, dass der Bund mehr Verantwortung in der Wohnungspolitik übernimmt, vor allem über das Jahr 2019 hinaus. Dann könnte der Bund die Zahlungen an die Länder für den sozialen Wohnungsbau einstellen. Derzeit erhalten diese jährlich 1,5 Milliarden Euro für den Bau von Sozialwohnungen, teilweise geben die Länder aber das Geld für andere Zwecke aus. Werena Rosenke, stellvertretende Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft, sagt: " Ein reiches Land wie Deutschland hat durchaus Mittel die Wohnungslosigkeit zu bekämpfen."