Gelsenkirchen:Wo Armut und Bescheidenheit wohnen

Gelsenkirchen: Tristesse in Gelsenkirchen. Der Übergang von der Kohle- und Stahlstadt in die Moderne ist noch nicht gelungen.

Tristesse in Gelsenkirchen. Der Übergang von der Kohle- und Stahlstadt in die Moderne ist noch nicht gelungen.

(Foto: imago stock&people)

Gelsenkirchen ist eine junge Stadt, und doch hat sie schon einen 50-jährigen Absturz hinter sich. Damit steht sie für die noch immer ungelösten Probleme des Ruhrgebiets.

Reportage von Karl-Heinz Büschemann

Siegbert Panteleit hat eine besondere Fähigkeit: Er kann das Gesicht einer Stadt verändern. Beim Spaziergang durch die Fußgängerzone von Gelsenkirchen fällt dem 65-Jährigen zu jedem Haus, zu jedem Laden zwischen Hauptbahnhof und Theater etwas ein. "Hier haben wir nach langen Verhandlungen mit dem Eigentümer einen neuen Mieter gefunden", erklärt Panteleit, "dieses Ladenlokal konnten wir neu vermieten", sagt er im Ruhrpotttonfall. Er sagt "Wir", als sei er Immobilieneigentümer oder Kommunalpolitiker.

Panteleit ist aber privater Stadtplaner, er hat die Stadtverwaltung dabei beraten, wie die Bahnhofstraße wiederbelebt werden könnte. Die bot mit zugenagelten Schaufenstern vor zehn Jahren ein Bild von Grau und Trostlosigkeit. "Damals haben wir noch gedacht, die Stadt geht unter", sagt Panteleit. Heute gibt es hier nur noch einen einzigen leeren Laden. Ein Fortschritt.

Hat Gelsenkirchen es geschafft? Ist der Übergang von der Kohle- und Stahlstadt in die industrielle Moderne gelungen? Noch lange nicht. Das Revier ist noch immer eine Region der Not, auch wenn Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) den Eindruck vermittelt, in der Großregion seien die Umbauarbeiten getan: "Das Ruhrgebiet hat mit 2,3 Millionen genauso viele Beschäftigte wie zu den besten Zeiten von Kohle und Stahl", resümiert sie zufrieden.

Das sehen nicht alle so. Gelsenkirchen ist eine junge Stadt, erst etwa 100 Jahre alt - und doch hat sie schon einen gut 50-jährigen Absturz hinter sich. In den Sechzigerjahren lebten hier 400 000 Menschen. Heute sind es nur noch etwa 260 000. Es gab mal 40 Zechen, 160 000 Arbeitsplätze und jede Menge Wohlstand.

Nord-Süd-Gefälle im Ruhrgebiet wird oft nicht erkannt

Heute wohnen hier Armut und Bescheidenheit. Es gibt keine Zeche mehr, und die Zahl der Arbeitsplätze ist um mehr als die Hälfte zurückgegangen. Der Arbeitsamtsbezirk Gelsenkirchen verzeichnet mit 14 Prozent die größte Erwerbslosigkeit in Nordrhein-Westfalen.

Oberbürgermeister Frank Baranowski (SPD) könnte in Politikermanier davon schwärmen, wie es mit seiner Stadt aufwärtsging, seit er 2004 das Amt übernommen hat. Doch der 54-Jährige erklärt lieber den Unterschied zwischen dem Norden und dem Süden des Ruhrgebiets. Städte wie Essen oder Dortmund hätten den Wandel weitgehend bewältigt, sagt der OB. Und im Norden? "Da sieht es anders aus." Es ärgert den Stadtchef, dass selbst in Düsseldorf das Ruhrgebiet nur als eine Region gesehen wird: "Das ist ein Fehler."

Ihn stört zum Beispiel, dass alle Revier-Universitäten im Süden der Region angesiedelt wurden. Sein Gelsenkirchen hat nur eine Fachhochschule bekommen. Aber Universitäten schaffen Jobs, deshalb wurden sie in den vergangenen Jahrzehnten gegründet. Sie bringen junge Leute und neue Ideen in die leidenden Städte. Fachhochschulen hätten bei Weitem nicht diese Wirkung. "Der Norden muss bevorzugt behandelt werden", fordert Baranowski von der Politik. "Ungleiches muss ungleich behandelt werden."

Die vergessene Stadt

Es gibt Lichtblicke. Jedes Jahr entstehen in der Stadt 1000 neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze. Die Wirtschaftsförderer holen neue Unternehmen in die Stadt, die sie auf ehemaligen Zechenarealen ansiedeln. Alexander Brockt, Geschäftsführer des Logistikunternehmens Loxx, der vor 17 Jahren von Essen nach Gelsenkirchen kam, ist voll des Lobes: "Ich preise den Standort Gelsenkirchen gerne an", sagt er.

Der niederländische Damenwäschehersteller Hunkemöller geht demnächst mit seiner Deutschlandzentrale an einen neuen Yachthafen am Rhein-Herne-Kanal. Der Sicherheitsdienstleister Stölting hat gerade 100 Arbeitsplätze von Essen nach Gelsenkirchen geholt. Es tut sich etwas. Aber es muss noch mehr werden.

Gelsenkirchen trägt eine doppelte Last. Erstens den Abschied von der Schwerindustrie, und jetzt kommen noch die Zuwanderer aus Osteuropa oder dem Nahen Osten. Der Oberbürgermeister spricht von "Armutszuwanderung". Die Ärmsten der Armen strömen in die arme Stadt, weil es hier viele leer stehende Häuser gibt. Und schon sind die mühsam geschafften kleinen Fortschritte bei der Schaffung von Arbeitsplätzen wieder aufgefressen.

Die Bahnhofstraße liegt heute irgendwo zwischen Afghanistan und der Türkei: "Ich kann Ihnen in Gelsenkirchen 16 Nationen zeigen", sagt Stadtplaner Panteleit. Viele der ärmsten Menschen in Gelsenkirchen leben in der Innenstadt. Das ist ein Albtraum für Stadtplaner, weil heruntergekommene Viertel dem Ruf der Stadt schaden, besonders, wenn die Schrottimmobilien in der Innenstadt stehen.

Peter Peters ist gereizt. Seine schlechte Stimmung erklärt sich nicht nur dadurch, dass der Fußballverein Schalke 04, dessen Finanzvorstand er seit mehr als 20 Jahren ist, in letzter Zeit nur mäßige Erfolge vorweisen kann. Auch in Gelsenkirchen laufe manches falsch, sagt der Schalke-Mann. Das bedrückt ihn, der nicht einmal aus dem Revier stammt.

Ohne Bescheidenheit sagt er, dass der Traditionsverein viel für die Stadt getan hat. Schalke hat Gelsenkirchen ein neues Stadion gebracht und ein Areal drumherum, das als Freizeitpark zur Attraktion heranwächst. Der Verein habe hier 450 Arbeitsplätze geschaffen. "Ohne Schalke hätte Gelsenkirchen noch mehr Arbeitslose."

Der Strukturwandel muss von unten kommen

Aber dann klagt der Sportmanager: Über die da oben in Düsseldorf, in Berlin und über die bei den Behörden in Münster, die so wenig Verständnis hätten für die Nöte einer Stadt im Ruhrgebiet. Die Kommune und der Verein täten, was sie könnten, sagt er: "Alle kämpfen." Aber der Fußball könne nur gegen die Folgen des Niedergangs ankämpfen. Die Ursachen könne er nicht beseitigen. "Gelsenkirchen fühlt sich benachteiligt", ist Peters Fazit. "Diese Region hat mehr Unterstützung verdient." Es gebe zu wenig Polizisten, Schulen und Lehrer. Er könne gut nachvollziehen, "dass die Menschen hier denken, in einer Stadt zu leben, die vergessen wurde".

Um dem Niedergang entgegenzuwirken, hat Stadtplaner Panteleit bereits das nächste Projekt im Auge. Es liegt auf der anderen Seite des Hauptbahnhofs. "Dort beginnt die Bronx", sagt der Stadtplaner mit ironischem Blick auf den berühmten Problembereich von New York.

An der Bochumer Straße in Richtung Süden gibt es jede Menge heruntergekommene Wohnhäuser, die wie ein Magnet sind für Migranten und für skrupellose Immobilienhaie, die vom Leid der Zuwanderer leben. Hier machen Fernsehteams, die Verfall und Niedergang im Ruhrgebiet einfangen wollen, gerne ihre Bilder. Diese Immobilien versucht die Stadt mit Panteleits Hilfe zu kaufen, zu renovieren und an Studenten oder andere junge Leute zu vermieten, die hier eine Art Künstlerszene entstehen lassen könnten.

"Häuserkampf" nennt Panteleit dieses mühsame tägliche Ringen um ein bisschen Veränderung. Der Strukturwandel werde von Menschen gemacht, sagt er, der komme von unten, nicht von oben. "Man muss durchhalten, dranbleiben."

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