Wenn es so etwas wie ein "Notgame" gibt, dann ist " Diorama No.2: Der Grosse Gottlieb" bestimmt eines. Denn es ist einfach kein Spiel. Man setzt sich eine Virtual-Reality-Brille auf, nimmt auf einem Podest Platz und lässt die Beine baumeln. Ein Ventilator trägt von hinten Wind heran. Durch die Brille blickt man dann auf eine ganz andere Welt: Man sitzt auf einem Turm aus Stühlen, der bis in die Wolken ragt. Mit auf dem Turm steht ein kleiner Tisch, darauf ein Grammophon, das eine Arie aus der Zauberflöte spielt. So sitzt man da.
Das Diorama in der virtuellen Realität (VR) hatte seinen letzten Auftritt beim Notgames Fest 2015. Was genau ein Notgame sein soll, ist allerdings nicht eindeutig definitiert. Den Begriff hat das Künstlerpaar Tale of Tales vor rund fünf Jahren geprägt. Notgames waren eher als eine Provokation, eine Herausforderung gedacht, denn als neues Genre.
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"Wie sieht ein interaktives Kunstwerk ohne Wettbewerb, Ziele, Belohnungen, Gewinner und Verlierer aus?", fragten Tale of Tales damals. Seitdem haben viele Spiele diese Frage beantwortet. Und die Grenzen zum Establishment sind durchlässig. Auch renommierte Entwickler sind Fans von Tale of Tales, binden überraschende und neue Erlebnisse in ihre Großproduktionen ein.
Das Gegenteil der Gamescom
Mehr über diese Strömung konnte man ausgerechnet zur Gamescom-Woche in Köln erfahren. Katharina Tillmanns vom Cologne Game Lab (CGL) hat das Notgames Fest zusammen mit anderen Künstlern kuratiert. Ihr ging es auch darum, Computerspiele parallel zur Gamescom ganz anders zu zeigen. In der kleinen Ausstellung in den Räumen des CGL fanden die Besucher Ruhe statt Reizüberflutung. Tillmanns hat das selbst ausprobiert und eine halbe Stunde im Diorama entspannt: "Ich wollte nicht weg. Ich habe gemerkt, dass um mich herum viel passiert. Aber ich war wie unter einer Glocke. Ich war gleichzeitig im Raum und nicht im Raum."
Solche Momente der Kontemplation sind auf der Gamescom unerreichbar, beim Notgames-Fest waren sie Teil des Konzepts. Nur wenige Besucher konnten gleichzeitig in die Ausstellung, das Licht war gedämpft, von Menschenmassen und Showbühnen blieb man verschont. "Bei Spielen geht es darum, einzutauchen. Um diese Ruhe zu ermöglichen, brauchen wir einen Raum mit einer gewissen Privatsphäre.", erklärt Tillmanns.
Notgames sind keine Anti-Games
Wenn Tillmanns den Begriff Notgames erklärt, bewegt sie sich eng an der Definition von Tale of Tales. Sie nutzt ihn nicht, um bestimmte Spiele abzugrenzen, sondern versteht ihn als Provokation für die konventionelle Szene. Notgames bezeichnet auch einen Designansatz: "Entwickler geben Games eine gewisse Offenheit und benutzen den interaktiven Raum für andere Erlebnisse." Die Spiele-Branche öffnet sich seit Jahren in alle Richtungen. Das Chaos lässt sich in verschiedene Strömungen einteilen, auch von Alt-Games und Games for Change wird gerne geredet. Die ehemalige Nische Indie-Game ist dagegen längst im Mainstream angekommen.
Notgames sind ungewöhnlich, in der Regel schwer verkäuflich und würden im Lärm der Gamescom untergehen. Trotzdem haben einige Erfolg. " Mountain" etwa ist ein mäßig interaktiver Bildschirmschoner, bei dem jeder Spieler seinen eigenen Berg auf dem Bildschirm beobachten kann. Wie eine Schlusspointe thront er am Ende der Ausstellung auf einer Leinwand. Das Spiel ist vielleicht kein Spiel, aber es war ein kommerzieller Erfolg und ein kleines soziales Phänomen.
Spieler statt Helden
Das "Mountain"-Thema könnte stellvertretend für das Konzept des Notgame-Fests 2015 stehen. Denn in allen Titeln suchte man eines vergeblich: den Helden. Der Spieler wurde an jeder Station auf sich selbst zurück geworfen.
Der Verzicht auf Protagonisten ist nicht typisch für alle Notgames, er zeigt eher eine kulturelle Strömung unter Künstlern. Spielemacher blicken aus dem Bildschirm, sie interessieren sich verstärkt für den Spieler. Am deutlichsten wird das, wenn sie auf seinen Körper zielen. VR-Spiele wie Der Grosse Gottlieb binden ihn stärker ein: Der Spieler sitzt still, aber er schaut sich um und erlebt den Wolkenturm mit Wind im Haar und baumelnden Beinen.
Die Wiederentdeckung des Körpers wird auch durch Smartphones begünstigt. Die leistungsstarken Handys können nicht nur ansprechende Grafik anzeigen, sie haben auch Bewegungssensoren und können erkennen, wo sie sich befinden. So werden neue Tanz-, Interaktions-, und Performance-Spiele möglich.
Entdecken statt zocken
Viele Beispiele auf dem Notgames Fest zeichneten ein düsteres Bild von der Zukunft. Das ist bei der allgemeinen Lust an der Dystopie nicht verwunderlich. Aber im Vergleich zu kommerziell ausgerichteten Videospielen zeigt sich ein deutlicher Unterschied. Blockbuster wie Ubisofts kommender Shooter "The Division" inszenieren den Zusammenbruch der Zivilisation, um Kampfarenen in den Ruinen einzurichten. Die Katastrophe ist nur Leinwand für Unterhaltung.
Notgames bieten dagegen keine Belohnungs- und Erfolgsmechanismen, sie müssen nicht unterhalten. Wenn sie Visionen vom Überwachungsstaat, vom Verlust der Individualität und von Bezugslosigkeit zeigen, dann bleibt der Spieler machtlos. Der " Luxury $imulator" etwa bietet eine besonders ätzende Vision vom Zusammenbruch des Kapitalismus. Spieler erkunden eine Bunkeranlage, in die ein reiches Paar sich und seine Besitztümer hinein retten wollte. Doch die Reichen haben es nie bis ins Innere der Pyramide geschafft. Nur das Echo der Architektin führt den Spieler durch ein Labyrinth aus Gemälden, Skulpturen und Designmöbeln.
So ein Spiel ist mitunter schwer zu ertragen. Schwer zu spielen ist es nicht. Das ist ein verbindendes Element der Notgames: Spiele ohne Ziele erfordern kein manuelles Geschick. Um den Luxury $imulator zu spielen, muss man nicht üben oder schnell reagieren. Für Notgames braucht man keine Skills. Aber Offenheit. Notgames sind keine Nische. Mit ihnen kann man entdecken, in was für einer Nische die meisten Videospiele immer noch stecken.