Süddeutsche Zeitung

Norwegen:Zahlen und  gehorchen

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Norwegen übernimmt viele Regeln aus Brüssel ohne mitzubestimmen, denn es ist nicht Mitglied der EU.

Von Silke Bigalke, Stockholm

Norwegen hat eine paradoxe Beziehung zur Europäischen Union. Denn als die Norweger 1994 zum zweiten Mal "Nein" zu einem Beitritt sagten, waren sie eigentlich schon längst mittendrin. Bereits Anfang 1994, also im Jahr des Referendums, war das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) in Norwegen in Kraft getreten. Es hat dafür gesorgt, dass sich Norwegen heute kaum von einem Mitgliedstaat unterscheidet.

Norwegen ist Teil des europäischen Binnenmarktes, Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital können die Grenze zur EU frei passieren, die Grenzkontrollen sind abgeschafft. Oslo arbeitet auch in vielen anderen Fragen, etwa von Energie und Klima, Fischerei und Seefahrt, Forschung und Bildung mit Brüssel zusammen. Es hat zahlreiche Abkommen neben dem EWR unterzeichnet, zum Beispiel über Asylpolitik und die Zusammenarbeit der Polizei. Norwegen stellt sich regelmäßig hinter die außenpolitischen Positionen der EU, schloss sich zuletzt den Sanktionen gegen Russland an. Und es zahlt in die Gemeinschaft ein, jährlich 388 Millionen Euro für weniger wohlhabende EU-Länder. Etwa drei von vier Entscheidungen aus Brüssel, die die EU-Mitglieder betreffen, betreffen auch Norwegen. Allein: Mitentscheiden darf es nicht.

Norwegen "obeys and pays", schreibt Erik Oddvar Eriksen, Leiter des Zentrum für Europäische Studien an der Uni Oslo, in einem Blogbeitrag über "Norwegens Paradox". Norwegen gehorcht und bezahlt, aber es ist nicht im Entscheidungsprozess repräsentiert. Dabei wollten die Norweger, als sie sich gegen den Beitritt entschieden, genau das Gegenteil erreichen, nämlich ihre Selbstbestimmung erhalten. Sie wollten keinen Gesetzen gehorchen, die außerhalb ihres Landes gemacht wurden. Jetzt setzt ihr Parlament in Oslo ständig Regeln aus Brüssel um, bei denen nicht einmal ein Norweger mitreden durfte.

Im Februar hat der norwegische Europaminister Vidar Helgesen die Briten vor den Nachteilen dieses Arrangements gewarnt. In einer Rede, die er in London hielt, beschrieb er Norwegen als eine Art Befehlsempfänger. Mehr als 10 000 EU-Regeln seien in den vergangenen 20 Jahren rund um das EWR-Abkommen entstanden. Das seien etwa fünf Regeln für jeden Tag, an dem das norwegische Parlament in dieser Zeit zusammenkam. Das EWR-Abkommen sieht zwar vor, dass die Partnerländer Norwegen, Liechtenstein und Island gefragt werden, bevor eine Entscheidung fällt. "Aber wir werden nur gefragt. Die EU muss uns nicht zuhören", sagte Helgesen. "Wir müssen hart arbeiten, damit wir gehört werden. Das tun wir."

Die Regierung sitzt in der Falle. Noch einmal will sie das Volk nicht über den Beitritt abstimmen lassen

Richtig wohl fühlt sich die norwegische Regierung damit nicht. Doch sie sitzt in der Falle. Die Zusammenarbeit mit Brüssel einzuschränken oder zu beenden ist kaum möglich, Norwegen ist viel zu abhängig vom europäischen Markt. Dorthin schickt es mehr als 80 Prozent seiner Exporte, und von dort erhält es 60 Prozent seiner Importe. Das dünn besiedelte Land ist darauf angewiesen, dass andere Europäer nach Norwegen kommen um zu arbeiten.

Auch in die andere Richtung ist der Weg versperrt. Die Norweger noch einmal über den Beitritt abstimmen zu lassen, wagt die Regierung nicht. Die Gefahr, dass sie wieder "Nein" sagen, sei zu groß, sagt der Osloer Politikwissenschaftler Erik Oddvar Eriksen. Stattdessen versuchten norwegische Politiker, den Fuß in jede offene Tür in Brüssel zu bekommen und bei Europa mitzumachen, wo immer es möglich ist. "Es ist eine verrückte Situation und sie hat schon zu manch institutioneller Akrobatik geführt", sagt Eriksen. De facto sei Norwegen längst Mitglied.

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SZ vom 30.07.2015
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