Neues Wirtschaften:Weniger wagen

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Der Modekonzern Hugo Boss ist einer der ersten, der zur Hauptversammlung von den Verfechtern der Gemeinwohl-Bilanz untersucht wurde. Es geht um Umweltrisiken, Gehälter, Lieferanten. Die Firma selbst stellte gerade einen nachhaltigen Turnschuh vor, will in Qualität und neue Materialien investieren. (Foto: Simon Dawson/Bloomberg)

Soziale Innovationen spielen bei der Gemeinwohl-Bilanz zum Erreichen von Nachhaltigkeit eine wichtige Rolle. Forscher untersuchten jetzt elf Pionierunternehmen mit einer solchen Aufstellung.

Von Caspar Dohmen, Berlin

Der Welterschöpfungstag fiel 2017 auf den 2. August, das restliche Jahr betrieb die Menschheit entsprechend rechnerisch Raubbau am Planeten. Die Organisation Global Footprint Network ermittelt jährlich das Datum, indem sie die menschliche Nachfrage nach Ressourcen in ein Verhältnis zur Biokapazität des Planeten setzt. Die Menschheit wird mittelfristig vermutlich nur überleben, wenn eine Trendwende gelingt. Deswegen gibt es das Pariser Klimaabkommen und die Nachhaltigkeitsziele der Staaten, die sogenannten SDGs. Ganz wesentlich hängen Fortschritte davon ab, dass Unternehmen in Zukunft nachhaltig wirtschaften. Einen radikalen Ansatz, um dieses Ziel zu erreichen, verfolgt die zivilgesellschaftliche Bewegung der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ), entwickelt von einer Gruppe um den Aktivisten Christian Felber in Österreich.

Als Maßstab für den Erfolg von Unternehmen gilt in der GWÖ nicht mehr die Höhe des Gewinns, sondern der Beitrag für das Gemeinwohl. Im September 2015 bekam die Bewegung den Ritterschlag vom Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, der sie in einer offiziellen Stellungnahme als ein "nachhaltiges Wirtschaftsmodell für den sozialen Zusammenhalt" bezeichnete. Während eine Umsetzung der gesamten GWÖ utopisch erscheint, probieren Unternehmer, Kommunen, Universitäten und andere ein Kernelement ganz praktisch aus: die Gemeinwohl-Bilanz. Rund 400 Unternehmen haben sie erstellt, vorwiegend kleine und mittlere Firmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Was ist von dem Instrument in puncto Nachhaltigkeit zu halten, und wäre es auch für große Unternehmen geeignet? Mit solchen Fragen haben sich Wissenschaftler der Universitäten in Flensburg und Kiel beschäftigt. Anlass war ein Projekt des Bundesforschungsministeriums zu Verfahren der Bewertung von Nachhaltigkeit. Eine Besonderheit bei der Gemeinwohl-Bilanz sieht Bernd Sommer von der Europa-Universität Flensburg: Sie setze neben technologischen Maßnahmen zur Effizienzsteigerung "ganz wesentlich auf soziale Innovationen". Im Vergleich zu anderen Umweltmanagementsystemen zur Unternehmensverantwortung räume die Gemeinwohl-Bilanz der Suffizienz großen Stellenwert ein. Dabei geht es um eine absolute Senkung des Ressourcenverbrauchs bei der Herstellung von Waren. Adressiert werden deswegen der absolute Einsatz von Material, die Substitution durch ökologisch höherwertige Rohstoffe, Wasserverbrauch, Recycling und Wiederverwendung. Auch Konsumenten soll suffizientes Verhalten ermöglicht werden, weswegen es bei dieser Bilanzierung von Unternehmen positiv bewertet wird, wenn Produkte reparabel sind.

Elf Pionierunternehmen mit einer Gemeinwohl-Bilanz untersuchten die Forscher, darunter der Outdoorhersteller Vaude, der Tiefkühlhersteller Ökofrost und die Großbiobäckerei Märkisches Landbrot. Fast alle decken etwa ihren Energiebedarf bereits zum größten Teil aus Solarenergie oder beziehen erneuerbare Energie. Alle verfolgten vielfältigste Maßnahmen, um den Ressourcenverbrauch zu verringern oder die Beteiligung von Mitarbeitern am Unternehmen zu erhöhen.

Fortschritte im Verbrauch werden konterkariert, indem die Leistung von Produkten erhöht wird

Die Verankerung von Suffizienz in der Wirtschaft wäre der entscheidende Schritt nach vorne. Bislang werden Fortschritte beim Ressourcenverbrauch etwa durch Effizienzgewinne dadurch konterkariert, dass die Leistung von Produkten erhöht wird, etwa bei Autos, oder die Konsumenten dann andere Waren und Dienstleistungen mehr nachfragen. Wissenschaftler sprechen von dem Rebound-Effekt.

An der Untersuchung beteiligten sich im Rahmen von Workshops auch Großunternehmen: die Otto Group, der Energiehersteller Eon, der Lkw-Hersteller MAN und die Drogeriemarktkette dm. Die Deutsche Post DHL Group zog sich dagegen schnell wieder zurück, weil das vorgestellte Konzept auf "ein Unternehmen unserer Größe und Internationalität nicht übertragbar" sei. Stephan Engel, bei Otto für Nachhaltigkeit zuständig, zeigt sich dagegen begeistert: "Den Ansatz finde ich gut, inspirierend und innovationsfördernd."

Firmengründer Michael Otto hatte schon vor 30 Jahren ökologische Fragen auf die Agenda gesetzt. Trotzdem ist der Konzern mit 55 000 Beschäftigten und einem Umsatz von 12,5 Milliarden Euro weit von einer echten Nachhaltigkeit entfernt. Aber das gilt heute für fast alle Firmen, ob groß oder klein. Denn echte Nachhaltigkeit würde bedeuten, dass ein Unternehmen etwa sozialen und ökologischen Systemen nicht mehr Ressourcen entnehmen würde, als sich dort wieder regenerieren können oder ihm zurückgegeben werden - etwa indem Wälder aufgeforstet werden, um bei der Produktion entstandenes CO₂ wieder zu binden. Prinzipiell sei echte Nachhaltigkeit notwendig, findet Engel: "Denn wenn wir weiter unsere Grundlagen auf dem Planeten untergraben, verlieren wir unsere Existenzgrundlage."

"Offen" habe man mit den Konzernen über Themen der Gemeinwohl-Bilanz wie Lohnspreizung, bessere Gehälter für die Beschäftigten entlang der Lieferketten oder maßvolle Gewinne diskutiert, sagen die Forscher. Aber es gebe Grenzen. Einen Verzicht auf betriebliches Wachstum lehnt Engel ab: "Schrumpfen entspricht nicht unseren Genen bei der Otto Group."

Wissenschaftlerin Josefa Kny erwartet nicht, dass Konzerne den Bewertungsansatz komplett übernehmen. Eine große Hürde sieht sie vor allem bei der Eigentumsfrage. Nach Ansicht der Gemeinwohl-Befürworter sollen die Betriebe den Mitarbeitern gehören. Eine weitere Hürde sei die geforderte ethische Finanzierung des Unternehmensgeschäfts.

Wir leben bei dem Thema in einer verkehrten Welt: Denn wer ökologisch und sozial nachhaltiger wirtschaftet, hat oft einen Wettbewerbsnachteil gegenüber Unternehmen, die dies nicht tun. Manche Firmen verlagern ihre Produktion sogar gezielt dorthin, wo sie leichter Mensch und Umwelt ausbeuten können. Die Verfechter der GWÖ gehören zu denjenigen, die diese Verhältnisse umdrehen wollen. Aber es gibt auch Kritik an der GWÖ. Mancher hält sie eher für eine Bewegung mit politischen Ambitionen. Zweifel gibt es auch daran, ob es sinnvoll ist, losgelöst vom Gesamtkonzept das Instrument der Gemeinwohl-Bilanz herauszupicken. Es ist fraglich, ob sich die Transformation der Wirtschaft durch Veränderungen einzelner Firmen erreichen lässt. Solche Unternehmen müssen zwangsläufig in einer Wirtschaft an Grenzen stoßen, die insgesamt nicht nachhaltig ist. Vieles spricht dafür, dass die Gesellschaft die Rahmenbedingungen für alle Firmen ändern muss, damit nachhaltiges Wirtschaften möglich wird.

© SZ vom 04.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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