Neuer Windpark in Lappland:Krieg der Rentierhalter

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Ein Rentier in den Weiten Lapplands. Mit der Ruhe könnte es allerdings bald vorbei sein. (Foto: Jonahtan Nackstrand/AFP)

Im lappländischen Markbygden soll einer der größten Windparks der Welt entstehen. Die meisten Schweden stört das nicht, das Volk der Samen aber fühlt sich bedroht und fürchtet um seine Rentiere. Dennoch genehmigt die Regierung in Stockholm immer weiter Industrieprojekte auf deren Weideflächen.

Von Kathleen Hildebrand

Ein grüngraues Stück Flechte kräuselt sich in Patrik Lundgrens Hand. "Das mögen sie am liebsten", sagt er. Das trockene Gewächs sieht nicht sehr nahrhaft aus, aber hier im schwedischen Teil Lapplands, nahe am Polarkreis, kann kein Lebewesen wählerisch sein. In einem Abstand von etwa fünfzig Metern stehen zwei Rentiere aus Lundgrens Herde, grau und zottelig, im blauen Licht der Dämmerung. Kommt man ihnen näher, ziehen sie sich in den Fichtenwald zurück.

Patrik Lundgren ist Rentierhalter und gehört zur skandinavischen Bevölkerung der Sami. 100.000 von ihnen leben heute noch in Nordeuropa, in Schweden, Norwegen, Finnland und auf der russischen Kolahalbinsel. Ursprünglich waren sie Nomaden, lebten von den Rentieren, von der Jagd und vom Fischen. Heute sind die Sami sesshaft, die meisten arbeiten irgendwo als Angestellte. Von der Rentierhaltung leben in Schweden nur noch 2500 Menschen - ausschließlich Sami, sie haben das Monopol und dürfen ihre Herden überall grasen lassen. Die Rentierzüchter gelten als Verteidiger der samischen Kultur.

Lundgren trägt Funktionskleidung, aber seine riesigen, filzgefütterten Stiefel sehen aus wie aus einer anderen Zeit, die halb hochgeschlagenen Ohrenklappen seiner Mütze wie samische Tracht. Zwischen 2000 und 3000 Tiere gehören seiner Hütegemeinschaft, dem Samenverbund von Östra Kikkejaur. Sein Vater war Rentierhalter und dessen Vater auch. Doch nun ist die Tradition in Gefahr. Die uralten Routen, auf denen er seine Rentiere im Herbst von den Sommerweiden im Gebirge auf eine Halbinsel nahe der Stadt Piteå treibt, sollen bald zum Hindernisparcours werden.

In Markbygden, einem Gebiet nordwestlich von Piteå, baut das deutsch-schwedische Unternehmen Svevind gemeinsam mit dem deutschen Windkraftanlagen-Hersteller Enercon einen der größten Windparks der Welt. 1101 Räder sollen hier bis 2020 gebaut werden. Bis zu sieben Milliarden Euro sollen in das Projekt in Markbygden investiert werden. Die Schweden selbst drängt die Frage, woher der Strom in Zukunft kommen soll, nicht mal so sehr. Der Verbrauch ist seit Jahren konstant und anders als in Deutschland ist Kernkraft nicht umstritten. Aber Energie ist ein lukratives Exportgeschäft. Darum geht es.

Die Deutschen lieben Windkraft - aber nicht vor der Haustür

"Wir wissen nicht, wie die Tiere auf die Turbinen reagieren werden", sagt Lundgren. Rentiere sind schreckhaft. "Wenn sie durch den dunklen Wald laufen und dann plötzlich eine große Turbine mit blinkenden Lichtern sehen, dann könnte sie das verscheuchen." Die Züchter wären tagelang damit beschäftigt, sie wieder zusammen zu treiben. 800 Kilometer Straße sollen für Bau und Wartung der Windkraftanlagen entstehen. Und Kenneth Bergquist ist der Bauleiter. Er rast 60 Kilometer durch die Wälder, steigt aus dem Auto und spuckt Kautabak auf den Boden.

Neben ihm ragt eine der ersten zwölf Anlagen in die Höhe: 138 Meter, "je höher, desto effizienter", sagt Bergquist, andere Anlagen sollen bis zu 200 Meter hoch werden. "Der Bergrücken hier hat die besten Windbedingungen, die man finden kann." Auch die großen Stromleitungen nach Südschweden laufen direkt an dem Gebiet vorbei. Von dort könnte es irgendwann eine Verbindung nach Dänemark geben, und vor allem nach Deutschland. Wo die Menschen Strom brauchen und Windkraft lieben - nur eben nicht die Windräder neben dem eigenen Wohngebiet sehen wollen.

"In Markbygden leben nicht viele Menschen", sagt der Bauleiter. Dieses Argument haben die Sami schon oft gehört - immer dann, wenn ein Staudamm gebaut oder eine neue Erzmine erschlossen wird. Lappland ist reich an Rohstoffen wie Eisen, Kupfer und seltenen Erden. Mit ihrem Mineralabbaugesetz hat die Regierung dafür gesorgt, dass Schweden zu einem der größten Rohstofflieferanten Europas wurde. Das Gesetz ist umstritten, selbst die Vereinten Nationen haben es kritisiert. Der UN-Ausschuss für die Beseitigung von Rassendiskriminierung (CERD) hat "mit Sorge", festgestellt, dass ein angekündigtes Gesetz zur Regelung der Landnutzungsrechte der Sami seit dreieinhalb Jahren überfällig sei.

Dennoch genehmigt die Regierung weiter Industrieprojekte auf den Weideflächen der Sami - auch ohne deren Zustimmung. "Das Fehlen einer Bergbausteuer und des Rechts auf Gewinnbeteiligung der Kommunen machen Schweden zu einem billigen Land für Rohstoffausbeutung", sagt Jenny Wik Karlsson, Juristin des schwedischen Verbands der Sami. Sie beklagen die "Kolonisierung" ihrer Gebiete. Der Kampf beginne gerade erst. Für viele Rentierhalter ist es längst ein Krieg. Aber viele Schweden fragen sich, wozu ein kleiner und ihrer Ansicht nach wenig zukunftsweisender Wirtschaftszweig wie die Rentierhaltung erhalten werden muss.

Rentierzucht ist ein mühsames Geschäft. Das Fleisch steht als Delikatesse auf vielen Speisekarten des Landes. Nach Berechnungen der Schwedischen Landwirtschaftsuniversität bringt eine Herde von 500 Rentieren knapp 32.000 Euro im Jahr ein. Zum Leben reicht das nicht. Im Sommer nimmt Patrik Lundgren andere Jobs an, um Geld zu verdienen. "Ich brauche viel mehr Tiere als mein Vater früher hatte, um leben zu können", sagt er.

Doch große Herden zusammen zu halten und zu schützen wird immer schwieriger. Züge und Autos überfahren jeden Tag Tiere und seit einigen Jahren werden immer mehr Rentiere von Wölfen und anderen Raubtieren gerissen. Auch der Klimawandel macht den Rentierhütern zu schaffen. Wärmeperioden im Winter lassen den Schnee schmelzen. Wenn er dann wieder gefriert, bildet sich eine dicke Eisschicht auf dem Boden. Die Rentiere kratzen sich daran die Hufe wund, wenn sie nach Futter suchen.

Den Sami geht es um die Anerkennung

"Das Land gehört nicht mir. Aber wir haben ein besonderes Recht, es zu nutzen", sagt Patrik Lundgren: ein uraltes Gewohnheitsrecht auf die Landnutzung, das in den schwedischen Gesetzen verankert ist. Das gefällt nicht jedem. Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen, juristischen wie tätlichen, mit Bauern, privaten Waldbesitzern und bis vor kurzem auch mit Svevind. Es habe mehr als vier Jahre gedauert, bis die Firma verstand, worum die Sami eigentlich kämpften, sagt Lundgren.

Nämlich nicht nur um Geld. Den Sami gehe es um die Anerkennung und Bewahrung ihrer Kultur, sagt Lundgren, auch wenn das den wirtschaftlichen Interessen entgegensteht, die Lappland bei Investoren weckt. "Wenn wir nicht alles Land nutzen können, dann können wir nicht mehr mit den Rentieren leben." Er sagt mit den Rentieren - nicht von. Nun will Svevind den Rentierhütern zumindest Geld zahlen, falls die Windräder ihnen doch Probleme bereiten.

Patrik Lundgrens Sohn ist 17 und bleibt lieber im Auto sitzen, während sein Vater draußen redet. In seinen Ferien begleitet er ihn gern bei der Arbeit mit den Rentieren. "Manchmal frage ich mich," sagt Lundgren, "ob es das ist, was ich den Rest meines Lebens machen will? Aber dann sehe ich meinen Sohn und denke: Ja natürlich, ich muss ihm beibringen, was mir mein Vater beigebracht hat. Es ist nicht leicht, ein Sami zu sein. Aber ich bin stolz darauf."

Diesen Stolz äußern die Sami noch nicht lange. Um ihre schwierige Position in der schwedischen Gesellschaft zu verstehen, lohnt ein Besuch bei Sonia Signarsdotter, 53, in Porjus, zweihundert Kilometer nördlich von Lundgrens Winterweide. Als sie in dem kleinen Samendorf Kaltisluokta aufwuchs, war es noch verpönt, auch nur die Sprache ihres Volkes zu sprechen. Heute ist das anders, es gibt samische Schulen und viele Sami lernen wieder Samisch. Signarsdotters Eltern haben nie ein großes Thema aus ihrer kulturellen Identität gemacht, ihre Kinder sollten zur schwedischen Gesellschaft gehören und alle Möglichkeiten nutzen. Das hat die Tochter getan. Nach ihrem Wirtschaftsstudium fing sie beim Energiekonzern Vattenfall an. Als Medienbeauftragte führt sie heute oft Besucher durch das Porjus-Wasserkraftwerk, das älteste der 15 Kraftwerke, die den nordschwedischen Lule-Fluss stauen.

"Sie kamen und nahmen, was sie wollten"

Porjus ist ein besonderes Kraftwerk. Wie eine Kathedrale steht es am Ufer des Stausees, auf dem Dach glänzt eine goldene Krone im Abendlicht. Das Treppenhaus hat hohe neogotische Bleiglasfenster, der alte Kontrollraum ist mit Marmor verkleidet - mit grünem aus Schweden und mit weißem aus Italien. 80 Meter unter dem Gebäude drehen sich moderne Turbinen. Die alten aus dem Jahr 1914 sind nur noch Ausstellungsstücke.

Als Kind hörte Sonia Signarsdotter manchmal, dass man in anderen Orten nur auf einen Knopf an der Wand drücken müsse, damit es hell werde: In Kaltisluokta gab es keinen Strom. Vielleicht kommt daher ihre Faszination für Energie und Elektrizität: "Dieses Thema durchzieht alle Bereiche der Gesellschaft, ich kann mir nichts Interessanteres vorstellen", sagt Signarsdotter. Ihre Großmutter hat das damals nicht verstanden, dass die Enkelin für Vattenfall arbeitet. "Nicht du!", rief sie entsetzt. "Für ältere Sami ist Vattenfall das Böse schlechthin", sagt Signarsdotter. "Sie kamen und nahmen sich einfach, was sie wollten." Die Natur. Und damit die Grundlage für die samischen Traditionen. "Aber niemand will heute mehr ohne Elektrizität leben", die 53-Jährige, "auch die Sami nicht."

© SZ vom 27.12.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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