Ein grüngraues Stück Flechte kräuselt sich in Patrik Lundgrens Hand. "Das mögen sie am liebsten", sagt er. Das trockene Gewächs sieht nicht sehr nahrhaft aus, aber hier im schwedischen Teil Lapplands, nahe am Polarkreis, kann kein Lebewesen wählerisch sein. In einem Abstand von etwa fünfzig Metern stehen zwei Rentiere aus Lundgrens Herde, grau und zottelig, im blauen Licht der Dämmerung. Kommt man ihnen näher, ziehen sie sich in den Fichtenwald zurück.
Patrik Lundgren ist Rentierhalter und gehört zur skandinavischen Bevölkerung der Sami. 100.000 von ihnen leben heute noch in Nordeuropa, in Schweden, Norwegen, Finnland und auf der russischen Kolahalbinsel. Ursprünglich waren sie Nomaden, lebten von den Rentieren, von der Jagd und vom Fischen. Heute sind die Sami sesshaft, die meisten arbeiten irgendwo als Angestellte. Von der Rentierhaltung leben in Schweden nur noch 2500 Menschen - ausschließlich Sami, sie haben das Monopol und dürfen ihre Herden überall grasen lassen. Die Rentierzüchter gelten als Verteidiger der samischen Kultur.
Lundgren trägt Funktionskleidung, aber seine riesigen, filzgefütterten Stiefel sehen aus wie aus einer anderen Zeit, die halb hochgeschlagenen Ohrenklappen seiner Mütze wie samische Tracht. Zwischen 2000 und 3000 Tiere gehören seiner Hütegemeinschaft, dem Samenverbund von Östra Kikkejaur. Sein Vater war Rentierhalter und dessen Vater auch. Doch nun ist die Tradition in Gefahr. Die uralten Routen, auf denen er seine Rentiere im Herbst von den Sommerweiden im Gebirge auf eine Halbinsel nahe der Stadt Piteå treibt, sollen bald zum Hindernisparcours werden.
In Markbygden, einem Gebiet nordwestlich von Piteå, baut das deutsch-schwedische Unternehmen Svevind gemeinsam mit dem deutschen Windkraftanlagen-Hersteller Enercon einen der größten Windparks der Welt. 1101 Räder sollen hier bis 2020 gebaut werden. Bis zu sieben Milliarden Euro sollen in das Projekt in Markbygden investiert werden. Die Schweden selbst drängt die Frage, woher der Strom in Zukunft kommen soll, nicht mal so sehr. Der Verbrauch ist seit Jahren konstant und anders als in Deutschland ist Kernkraft nicht umstritten. Aber Energie ist ein lukratives Exportgeschäft. Darum geht es.
Die Deutschen lieben Windkraft - aber nicht vor der Haustür
"Wir wissen nicht, wie die Tiere auf die Turbinen reagieren werden", sagt Lundgren. Rentiere sind schreckhaft. "Wenn sie durch den dunklen Wald laufen und dann plötzlich eine große Turbine mit blinkenden Lichtern sehen, dann könnte sie das verscheuchen." Die Züchter wären tagelang damit beschäftigt, sie wieder zusammen zu treiben. 800 Kilometer Straße sollen für Bau und Wartung der Windkraftanlagen entstehen. Und Kenneth Bergquist ist der Bauleiter. Er rast 60 Kilometer durch die Wälder, steigt aus dem Auto und spuckt Kautabak auf den Boden.
Neben ihm ragt eine der ersten zwölf Anlagen in die Höhe: 138 Meter, "je höher, desto effizienter", sagt Bergquist, andere Anlagen sollen bis zu 200 Meter hoch werden. "Der Bergrücken hier hat die besten Windbedingungen, die man finden kann." Auch die großen Stromleitungen nach Südschweden laufen direkt an dem Gebiet vorbei. Von dort könnte es irgendwann eine Verbindung nach Dänemark geben, und vor allem nach Deutschland. Wo die Menschen Strom brauchen und Windkraft lieben - nur eben nicht die Windräder neben dem eigenen Wohngebiet sehen wollen.