Süddeutsche Zeitung

Arbeitsmarkt:Fast jeder vierte Mitarbeiter steht vor dem Absprung

Viele Beschäftigte möchte in einem Jahr woanders arbeiten. Das liegt vor allem an den Chefs und Chefinnen.

Von Kathrin Werner

Am Freitag hatte Marco Nink sein 25-jähriges Dienstjubiläum. Pa Sinyan ist seit 15 Jahren dabei. Wenn die beiden über Gallup sprechen, das Meinungsforschungsinstitut, das ihr Arbeitgeber ist, fallen Sätze wie "Ich habe viele Freiheiten und kann machen, was ich gut kann: mit Zahlen arbeiten", "Ich arbeite mit meinen besten Freunden zusammen" und "Meine Führungskraft ist für mich da, wenn es darauf ankommt". Immer wieder rufen Headhunter bei den beiden Meinungsforschern an, aber sie lehnen die Angebote ab.

Laut ihrer eigenen Umfrage sind Nink und Sinyan damit ziemliche Ausnahmen. 23 Prozent der Beschäftigten in Deutschland möchten in einem Jahr nicht mehr bei ihrem derzeitigen Arbeitgeber tätig sein, hat Gallup gerade herausgefunden. 42 Prozent wollen den Absprung innerhalb von drei Jahren wagen. "Noch nie waren so viele Menschen auf Jobsuche oder offen für Veränderung wie jetzt", sagt Sinyan, der bei Gallup Chef der Niederlassungen in Europa, dem Nahen Osten und Afrika ist. Schuld daran sind viele Faktoren, aber vor allem seien es: schlechte Chefinnen und Chefs. "Es gibt nur einen kleinen Anteil der Arbeitnehmer, die gute Führung am Arbeitsplatz erleben."

Ein größerer Anteil der Beschäftigten als in den USA sind hierzulande auf Jobsuche

14 Prozent sind laut der jüngsten Umfrage unter 1500 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmers in Deutschland bereits aktiv auf der Suche nach einer neuen Tätigkeit. Das sind doppelt so viele Beschäftigte wie im vergangenen Jahr und sogar mehr als in den USA. US-Amerikaner sind traditionell eher bereit Jobs zu wechseln als Deutsche, schließlich galt hierzulande eine lebenslange Konzernkarriere lange als das große Lebensziel, Menschen nannten sich stolz Siemensianer oder Audianer und wollten das auch bis zur Rente bleiben. Nun rollt in den USA mit der sogenannten "Great Resignation" eine Kündigungswelle durchs Land, trotzdem ist der Anteil deutscher Beschäftigter, die aktiv eine neue Stelle suchen, um vier Prozentpunkte höher.

Die starke Bereitschaft, den Job zu wechseln, liegt auch an der Pandemie. Zum einen sind Jobwechsel leichter, weil es bei vielen Arbeitgebern möglich ist, aus dem Home-Office zu arbeiten und man für einen neuen Job nicht mehr zwangsläufig umziehen muss. Zum anderen geben Menschen der Arbeit weniger Priorität, sodass ihnen Jobwechsel emotional leichter fallen. "Die Pandemie hat dazu geführt, dass die Leute darüber nachgedacht haben, was sie vom Leben wollen", sagt Nink, der Leiter der Gallup-Studie. "Der Stellenwert von Arbeit hat für viele abgenommen." Gleichzeitig hat der Stress während der Pandemie extrem zugenommen. 38 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gaben in der Umfrage an, aufgrund ihres Jobs innerlich ausgebrannt zu sein. Vor Corona lag dieser Wert lediglich bei 26 Prozent.

Gute Führungskräfte stärken die Bindung ans Unternehmen

Die vielen Menschen, die gerne ihre Jobs wechseln wollen, treffen derzeit auf einen Arbeitsmarkt, der sie dankend annimmt. Der Fachkräftemangel nimmt zu und mit ihm der Kampf um die besten Kräfte, Sinyan nennt ihn auf Englisch: "War of Talent". Das zeigt sich daran, dass jeder dritte Beschäftigte in den vergangenen zwölf Monaten von Headhunterinnen oder Personalberatern angesprochen wurde, die versuchten, ihn oder sie abzuwerben. Vor zwei Jahren waren es nur halb so viele.

Das Einzige, was gegen Pandemie-Stress, lockende Headhunter, Home-Office-Einsamkeit und generelle Arbeitsunlust hilft, sagen Sinyan und Nink, sind Chefinnen und Chefs, die ihre Arbeit gut machen, denn diese können dafür sorgen, dass die emotionale Bindung zum Arbeitgeber hoch ist. Wer es schafft, die Mitarbeitenden genug zu loben, sie als Menschen ernst zu nehmen, sie zu fördern und für sie da zu sein, werde dafür belohnt, sagt Nink. "Sobald die Bedürfnisse, die Menschen am Arbeitsplatz haben, gedeckt sind, bleiben sie im Unternehmen." Das gilt übrigens generationenübergreifend. Zwar sind junge Mitarbeiter eher bereit, den Job zu wechseln als ältere. Wenn sie gute Chefs haben, bleiben sie aber genauso oft wie ältere.

Wenn viele Mitarbeitende innerlich schon gekündigt haben, kostet das Unternehmen Produktivität. Die volkswirtschaftlichen Kosten belaufen sich laut Statistischem Bundesamt jährlich auf 92,9 bis 115,1 Milliarden Euro. "Unternehmen müssen sich mehr denn je darum bemühen, ein attraktives Arbeitsumfeld zu schaffen", sagt Sinyan. Allerdings sei den meisten Chefs das nicht bewusst. "Führungskräfte laufen relativ blind durchs Leben." 97 Prozent seien der Ansicht, dass sie gut führen. Allerdings fühlten sich nur 17 Prozent der Mitarbeitenden gut geführt. "Fremdbild und Selbstbild passen nicht zusammen."

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