Neuer Arztreport:Diagnose im Schweinsgalopp

Deutschland ist Weltmeister: Keine Nation geht so oft zum Arzt. Die Folge sind volle Wartezimmer, steigende Kosten - und für Beratung und Behandlung bleibt so viel Zeit wie für ein hartgekochtes Ei.

Es ist ein Teufelskreis: Die Deutschen gehen immer öfter zum Arzt, werden dort in immer kürzerer Zeit behandelt - und kommen deshalb immer häufiger wieder. Zu diesem Ergebnis kommt der jüngste Arztreport der Barmer GEK, der Deutschland als Weltmeister ausweist - in der Disziplin Arztbesuche.

Arztbesuch; ddp

Bitte den Mund öffnen und "Aaaaah" sagen: Die Deutschen gehen immer häufiger zum Arzt - und die Ärzte haben immer weniger Zeit.

(Foto: Foto: ddp)

Weil an einem Werktag duchschnittlich 45 Patienten im Wartezimmer sitzen, bleiben einem Arzt für Beratung und Behandlung laut der Statistik gerade mal acht Minuten - nur etwas länger, als für ein hartgekochtes Ei nötig sind. Im Jahr 2008 ging jeder Deutsche 18,1 Mal zum Arzt - das ist weltweit die Bestmarke. Im Jahr zuvor waren es noch 17,7 Arztbesuche.

Etliche Besuche überflüssig

Deutschland, einig Krankenstand? Die Verfasser des Reports bezweifeln, dass die häufigen Arztbesuche auf einen schlechten Gesundheitszustand zurückzuführen sind. So seien in Bayern die Menschen bundesweit am häufigsten zum Arzt gegangen - obwohl die Lebenserwartung dort besonders hoch sei.

Auch der internationale Vergleich weist darauf hin, dass es die "Arztrennerei" (Barmer-GEK-Vizechef Rolf-Ulrich Schlenker) ist, an dem das deutsche System krankt. Nach Angaben des Reports gehen die Menschen anderer Länder weit seltener zum Arzt, werden aber viel eingehender behandelt. In Schweden würden pro Kopf nur etwa drei Arztbesuche pro Jahr gezählt, in Belgien, Dänemark und Frankreich etwa sieben Arztbesuche.

"Die Patienten hätten lieber längere Kontaktzeiten", sagt der Sozialmediziner Friedrich-Wilhelm Schwartz, dessen Forschungsinstitut ISEG den Bericht erstellte. Im Arztreport heißt es: "Ließen sich Ärzte für einen Einzelkontakt mehr Zeit, können eventuell etliche Anschluss- oder Folgebesuche beim selben oder einem anderen Arzt überflüssig werden."

Der Hausarzt als Lotse

Doch wie lassen sich die Patienten davon abhalten, häufig das Wartezimmer zu frequentieren? Zu diesem Zweck wurde einst die Praxisgebühr in Höhe von zehn Euro pro Quartal eingeführt. Ihre abschreckende Wirkung scheint verpufft zu sein, weshalb Barmer-GEK-Vizechef Schlenker es begrüßt, dass die schwarz-gelbe Koalition sie auf den Prüfstand stellen will. Die zwei Milliarden Euro, die die Gebühr jährlich einbringt, müssten im Falle einer Streichung allerdings woanders herkommen, mahnt Schlenker.

Wichtig sei es, die Arztbesuche stärker zu steuern: Patienten sollten immer zuerst ihren Hausmediziner konsultieren, der sie dann gegebenenfalls an Fachärzte weiterleitet. So könnten Kosten gespart werden.

Zugleich forderte Schlenker eine Abschaffung der gesetzlichen Pflicht der Kassen zum Abschluss von entsprechenden Hausarztverträgen mit dem Hausärzteverband: "Wir wollen es freiwillig machen."

Die Zahlen, auf denen der Arztreport beruht, sind repräsentative Hochrechnungen der Daten von 1,7 Millionen Versicherten der Kasse GEK, die zum Jahresbeginn mit der Barmer fusionierte. Bei der Zahl der Arztbesuche waren die Forscher wegen einer Änderung der Abrechnungspraxis auf Schätzungen angewiesen.

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