Süddeutsche Zeitung

Neue Strategie:EU will Europa reindustrialisieren

Dienstleistungsgesellschaft - das war das Schlagwort der vergangenen Jahrzehnte. Doch in der Krise entdeckt die EU die Vorteile klassischer Produktion ganz neu: Es müsse eine "dritte industrielle Revolution" geben, fordert gar der zuständige EU-Kommissar Antonio Tajani.

Javier Cáceres und Oliver Hollenstein

Seit Jahrzehnten sinkt in den reichen westlichen Nationen der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung. Und auch in den meisten politischen Konzepten war von der modernen Wissensgesellschaft die Rede, basierend auf Dienstleistungen, ohne die schmutzige Industrie. Doch nun entdeckt die EU-Kommission die Industrie wieder. Wie am Freitag in Brüssel bestätigt wurde, wolle EU-Kommissar Antonio Tajani am kommenden Mittwoch ein neues industriepolitische Konzept vorlegen, in dem es heiße, dass Europa sich für das 21. Jahrhundert reindustrialisieren müsse.

Demnach sei eine starke industrielle Basis entscheidend für ein "wohlhabendes und wirtschaftlich erfolgreiches Europa". Es müsse in Europa eine "dritte industrielle Revolution" geben. Konkret plant Tajani, einen Richtwert festzulegen: Bis 2020 soll der Anteil der Industrie an der europäischen Wirtschaftsleistung wieder auf 20 Prozent angehoben werden.

Industriepolitik ist nationale Domäne

Laut Eurostat lag der Beitrag der Industrie zum Bruttoinlandsprodukt im vergangenen Jahr bei 16 Prozent. Im Jahr 2000 stand er dagegen noch bei 20 Prozent. Wie viel Wirkkraft die Empfehlungen Tajanis entfalten können, und mit wieviel Geld sie unterfüttert werden, war am Freitag ist offen. Industriepolitik ist in Europa eine nationale Domäne. Zudem müsse der Bericht noch vom Kollegium der EU-Kommissare abgesegnet werden.

Von Personen, die mit den Plänen Tajanis vertraut sind, erklärten am Freitag, dass zwar alle Industriezweige von Belang seien, um Europa zukunftsfähig zu machen, Tajani aber durchaus Schwerpunkte setzen möchte. Demnach wolle der Kommissar insbesondere Forschungskapazitäten fördern. Zudem solle es einen Ausbau des Binnenmarktes sowie Hilfen für Mittelständler beim Zugang zu internationalen Märkten geben. Darüber hinaus solle außerdem verstärkt auf Fortbildung wert gelegt werden, um das Angebot und die Nachfrage bei Arbeitskräften besser aneinander anzupassen. Auf diese Weise werde es auch möglich, die Attraktivität Europas als Produktionsstandort wiederherzustellen.

Schon länger ist die Rede davon, dass die Industrie gestärkt werden müsse, um Arbeitsplätze zu schaffen. Ein Problem nur: Industrielles Wachstum und der Umweltschutz widersprechen sich teilweise. In der Kommission hieß es, dass die Umweltschutzziele, die sich Europa für 2020 gesetzt hat, selbstredend berücksichtigt werden. Darüber hinaus sollen insbesondere Industriezweigen besonders gefördert werden, in denen so genannte "Übertragungs-Effekte" zu erzielen sind, also Umweltschutz und Arbeitsplatzförderung erreicht werden kann - zum Beispiel in der Energie- und Umweltindustrie.

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SZ vom 06.10.2012/hgn
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