Süddeutsche Zeitung

Neue Produktionsprozesse:Generalist gesucht

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Industrie 4.0 ist die Zukunft, darüber sind sich alle einig. Benötigt werden Mitarbeiter, die sich ebenso mit IT wie auch mit Wirtschaft oder Maschinenbau auskennen.

Von Miriam Hoffmeyer

Gute Berufschancen hatten für Le Minh Triets Studienwahl den Ausschlag gegeben. Trotzdem hatte der mathematikbegeisterte Vietnamese nicht damit gerechnet, dass er schon vor Abgabe seiner Masterarbeit drei Jobs zur Auswahl haben würde: "Ich hätte nicht gedacht, dass ich so viele Möglichkeiten habe!" Le Minh, der an der Universität Stuttgart "Infotech" - eine Mischung aus Informatik und Elektrotechnik - studiert hat, entschied sich schließlich gegen Angebote von Softwarefirmen und heuerte bei einem Tochterunternehmen des Bosch-Konzerns an. Seit Januar entwickelt der 25-Jährige "Embedded Systems": Mini-Computer, die in Bauteilen oder Maschinen eingebaut sind und dort Funktionen steuern, regeln und überwachen.

Wenn solche Systeme miteinander vernetzt sind, werden sie zum "Internet der Dinge". In der Fabrik der Zukunft organisieren sich die Maschinen weitgehend selbst, Lieferketten stellen sich automatisch zusammen, Aufträge werden direkt in Fertigungsinformationen umgewandelt. Einige Unternehmen haben schon Vorzeigefabriken errichtet, die so funktionieren: der Getriebehersteller Wittenstein Bastian in Fellbach, der Roboterproduzent Kuka in Augsburg oder Siemens in Amberg. Je mehr Fabriken die vernetzte Produktion einführen, desto stärker wird die Nachfrage nach Mitarbeitern mit Spezialkenntnissen in IT, Automatisierungstechnik und Robotik. Experten sind sich aber darüber einig, dass Generalisten mindestens ebenso sehr gebraucht werden.

In der Fabrik der Zukunft organisieren sich die Maschinen weitgehend selbst

"IT-Sicherheitsexperten, Datenanalytiker, Machine-to-Machine-Software-Entwickler oder Plattform-Experten werden künftig in jeder Fabrik gefragt sein", sagte Frank Riemensperger, Präsidiumsmitglied des Branchenverbands der digitalen Wirtschaft, Bitkom, vor Beginn der Hannover Messe. Zugleich verwies er auf eine aktuelle Bitkom-Studie, wonach fast alle befragten 550 Unternehmen glauben, dass die Arbeit in der vernetzten Fabrik mehr interdisziplinäre Kenntnisse erfordert. Deshalb fordert Riemensperger mehr Hybridstudiengänge wie Infotech: "Je weiter die Vernetzung voranschreitet, desto mehr verwischen die Grenzen zwischen Informatik und Maschinenbau."

Auch Professor Henning Kagermann, Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (Acatech), plädiert für mehr interdisziplinäres Denken: "Spezialkenntnisse können heute sehr schnell veralten." Niemand wisse genau, welche Qualifikationen in zehn Jahren gefragt seien, meint der Experte, der auch die Bundesregierung zu Industrie 4.0 berät: "Statt Studiengänge immer weiter zu spezialisieren, sollten wir sie auf ein möglichst breites Fundament stellen." Im Messe-Partnerland USA, das auch das wichtigste Exportland für die deutschen Maschinenbauer ist, werde die vierte industrielle Revolution viel umfassender gesehen: "Bei der Diskussion steht in Deutschland die Optimierung von Produkten und der Produktion im Vordergrund. Die Amerikaner sehen das Thema weniger technisch. Zentral ist, dass durch die Vernetzung aller Prozesse ganz neue Geschäftsmodelle möglich werden." Dafür werden Mitarbeiter an der Schnittstelle zwischen IT und Wirtschaftswissenschaften benötigt: Menschen, die große Mengen an Daten aufbereiten und auswerten können - und erkennen, wie sich dieses Wissen zu Geld machen lässt. Der ideale Mitarbeiter wäre demnach eine Art Wirtschaftsinformatikingenieur.

Aufgrund des Tempos der Veränderungen ist Henning Kagermann überzeugt, dass Offenheit für Neues die wichtigste Voraussetzung für eine Karriere in der Arbeitswelt der Zukunft ist: "Mitarbeiter müssen in der Lage sein, sich immer wieder in neue Aufgaben einzuarbeiten, statt starr an alten Schemata festzuhalten." Die neuen Arbeitsprozesse würden zu flacheren Hierarchien führen, deshalb müssten Arbeitnehmer künftig mehr Entscheidungen selbstständig treffen. Zudem werde die Arbeit in flexiblen Teams, auch über Firmengrenzen hinweg, zunehmen: "Damit werden Team- und Kommunikationsfähigkeit noch wichtiger als heute. Englisch - als IT-Fachsprache wie als universelle Kommunikationssprache - sei ebenfalls unverzichtbar.

Der Wandel durch Industrie 4.0 stellt die deutschen Unternehmen vor die Frage, wie sie ihre Mitarbeiter auf die neuen Aufgaben vorbereiten können. Für Jörg Friedrich, Abteilungsleiter Bildung beim Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA), steht dieses Thema im Vordergrund: "Wesentlich ist die Qualifizierung in den Betrieben. Wie kann man die Mitarbeiter permanent auf dem neuesten Stand halten? Das ist eine große Herausforderung." Eine vielversprechende Möglichkeit seien interne soziale Netzwerke, in die Mitarbeiter ihr Wissen über Problemlösungen einstellen und Kollegen es bei Bedarf abrufen könnten. Forderungen nach neuen Studiengängen oder Ausbildungen hält Friedrich dagegen für sekundär. Schließlich gebe es schon die Ausbildung zum Produktionstechnologen, die innovative Produktionsverfahren und IT in den Mittelpunkt stellt. Und statt neue Studiengänge einzuführen wäre es seiner Ansicht nach sinnvoller, angehenden Ingenieuren mehr IT-Inhalte zu vermitteln.

Bisher findet Weiterbildung zu Industrie 4.0 fast nur in großen Unternehmen statt, kleine und mittlere Unternehmen hinken hinterher. Aus Kostengründen und um Inhalte permanent aktualisieren zu können, empfiehlt Acatech-Präsident Kagermann, betriebliche Weiterbildung in kleinste Wissenseinheiten zum Zwischendurch-Lernen aufzuteilen, mit "Mini-Zertifikaten". Ein Experiment mit dieser Methode startet übermorgen: In fünf Wochen will ein kostenfreier Online-Kurs von Acatech Grundlagen zu Industrie 4.0 vermitteln ( https://mooc.house/acatech).

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SZ vom 23.04.2016
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