Süddeutsche Zeitung

Digitalisierung:Andrea Nahles hat die Zukunft der Arbeit verstanden

Home-Office, Sechs-Stunden-Tag, flexible Arbeitszeiten: Die Arbeitsministerin gibt sich offen für alles. Zwar birgt die Digitalisierung auch Gefahren - aber Furcht ist fehl am Platz.

Kommentar von Alexander Hagelüken

Wie die Deutschen arbeiten, verändert sich gerade rasant. Und dabei eröffnen sich genauso viele Chancen wie Gefahren. Die Digitalisierung gleicht einem Wesen mit zwei Köpfen, das dem Arbeitnehmer Gegensätzliches verheißt. Mit Laptop kannst du auch mal von zu Hause arbeiten, lockt der eine Kopf. Der Chef schickt dir mitternachts Mails, warnt der andere. Maschinen steigern deine Produktivität und damit deinen Lohn, verspricht der eine Kopf. Maschinen ersetzen dich, droht der andere.

Wie sich Chancen und Gefahren für die Arbeitnehmer in der neuen Wirtschaftswelt entwickeln, lässt sich noch nicht sagen. Beispielhaft dafür stehen die unterschiedlichen Prognosen über die Beschäftigung. Manche Ökonomen versprechen neue Stellen. Andere halten jede zweite menschliche Tätigkeit für ersetzbar, was Millionen in die Armut treiben könnte. Die Digitalisierung ist noch ein schwer berechenbarer Freundfeind.

Nahles hält nicht am Acht-Stunden-Tag fest - ein richtiges Signal

Bei so einer Ungewissheit zeigen sich Arbeitnehmer am besten offen und bereiten sich gleichzeitig auf alles Mögliche vor. Sie fordern von der Firma Homeoffice-Zeit ein, die die neue Technik ermöglicht. Sie sträuben sich nicht gleich gegen jede Veränderung ihrer Tätigkeit, weil die ihnen erstens nutzen kann und sie sie zweitens ohnehin schwer verhindern können. Sie achten darauf, durch Weiterbildung weiter für ihren Job oder einen anderen geeignet zu sein. Und sie wählen Parteien, die Firmen erschweren, Stammbelegschaften durch vogelfreie Selbständige zu ersetzen.

Sich geistig offen vorzutasten, zeichnet in so ungewisser Lage auch Politiker aus. Es geht ja darum, Arbeitnehmer vor Zumutungen zu schützen, ohne durch Überregulierung die Aussichten deutscher Firmen im internationalen Wettbewerb zu zertrampeln. Arbeitsministerin Andrea Nahles legt nun eine Übung in Offenheit vor, die der einst klassisch linken SPDlerin mancher nicht zugetraut hätte. Ihr Diskussionsentwurf zum Arbeiten 4.0 skizziert Schutzräume, ohne wirtschaftliche Aussichten zu zerstören.

Das gilt etwa für die Arbeitszeit. Wirtschaftsfunktionäre wollen den Achtstundentag kippen, während Gewerkschafter Halt! schreien. Nahles zeigt sich offen, aber nicht arglos. Sie bietet den Unternehmen an, die gesetzliche Arbeitszeit probeweise für zwei Jahre zu strecken. Aber nur, wenn sie dies in einem Tarifvertrag vereinbaren. Damit behält sich Nahles vor, die Flexibilität wieder zu kassieren, wenn sie zu negative Folgen haben sollte. Und sie verlangt den Firmen für ihre Wünsche etwas ab: Die Rückbesinnung auf Tarifverträge, die den Einzelnen vor der Übermacht eines Arbeitgebers schützen. Ein richtiges Signal. Heute zahlen nur noch halb so viele Firmen Tariflohn wie vor 20 Jahren, weil viele Arbeitgeber Flexibilität fordern, ohne dafür etwas zu leisten.

Die Deutschen müssen endlich mehr in Kreativität investieren

Offenheit demonstriert die Ministerin auch mit einer anderen Idee: individuellen Konten für Beschäftigte. Wenn einer Mehrarbeit für eine spätere Auszeit angespart hat, aber die Firma wechselt, soll er das mitnehmen können. Und jeder Beschäftigte könnte ein Guthaben vom Staat bekommen, um zum Beispiel eine Weiterbildung zu finanzieren.

Die Kontenidee widerspricht auf den ersten Blick klassischen Gewerkschaftervorstellungen vom Einheitsanzug für ihre Mitglieder. Sie betont die individuelle Verantwortung. Und genau die wird im digitalen Zeitalter gefragt sein, in der sich Berufe schneller wandeln und weniger Deutsche ihr Leben lang bei einer Firma bleiben dürften als bisher. Es lässt sich abschätzen, dass Menschen Maschinen wohl immer überlegen sein werden, wenn sie kreative und soziale Fähigkeiten ausbilden. Genau in die Bildung solcher Fertigkeiten werden die Deutschen investieren müssen.

Wird diese Kontenidee dann auch noch mit einem Startkapital für junge Menschen verbunden, die nicht erben - also mit Umverteilung von oben nach unten -, greift Nahles eine große Sorge vor dem digitalen Zeitalter auf: Wenn Maschinen Menschen ersetzen, bleibt diesen wenig, während Maschinenbesitzer reich werden. Die Ungleichheit wächst. Um sie zu dämpfen, wäre ein Startkapital aber nur der Anfang. Der entscheidende Schritt wäre, breite Schichten an den Aktien und Gewinnen der Unternehmen zu beteiligen.

Noch ist es ja ungewiss, welcher von den zwei Köpfen des digitalen Wesens die Zukunft der Arbeitnehmer bestimmen wird, der optimistische oder der skeptische. Wahrscheinlich ist, dass es positive und negative Folgen gibt. Wenn die Arbeitsministerin ihren Entwurf in konkrete Gesetze gießt, hilft sie den Deutschen, sich in diese Zukunft vorzutasten.

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SZ vom 30.11.2016/vit
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