Netflix:Schau an

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Streamingdienste profitieren extrem von der aktuellen Situation, Netflix hat jetzt Rekordzahlen vorgestellt. Aber bleibt das auch so? Der Markt ist hart umkämpft.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

(Foto: Netflix/dpa)

Es sind die derzeit häufig gestellten Fragen unter Bekannten: Na, schon die wahnwitzige Dokuserie "Tiger King" über exzentrische Großkatzen-Züchter auf Netflix gesehen? "The Mandalorian" auf Disney Plus aus dem Star-Wars-Universum? Die Basketballdoku "The Last Dance" über Michael Jordan und die Chicago Bulls der 1990er-Jahre?

Klar, so funktioniert Popkultur schon immer, aber in diesen Tagen sitzen sehr viele Menschen weltweit wegen Coronavirus-Restriktionen daheim. Streamingportale sind Gewinner der Pandemie, zum Beispiel Netflix - jenes kalifornische Unternehmen, das einst als DVD-Lieferservice anfing und nun wie kaum ein anderes für den Wandel der Fernsehwelt steht. Mehr als 15,7 Millionen neue Abonnenten hat das Unternehmen in den ersten drei Monaten des Jahres gewonnen, so viele wie nie zuvor innerhalb eines Quartals. Insgesamt gibt es weltweit nun 182,2 Millionen Netflix-Abonnements. Der Quartalsumsatz lag bei 5,7 Milliarden Dollar, der Gewinn bei 709 Millionen Dollar.

Der Streamingdienst ist an der Börse schon mehr wert als der Disney-Konzern

Man sollte meinen, das wäre Grund zum Jubeln - doch so einfach ist es nicht. "Wir haben noch nie eine Zukunft erlebt, die so unsicher und so beunruhigend ist", heißt es in einem Statement der Firma in der Nacht zum Mittwoch: "Wir rechnen damit, dass sich das Wachstum verlangsamen wird." So gab die Netflix-Aktie auch leicht ab, dabei hat das Papier in diesem Jahr bereits ein Drittel an Wert gewonnen. Die Streamingfirma ist inzwischen an der Börse mehr wert als der Unterhaltungskonzern Disney.

Kurzfristig ist es Netflix freilich mal wieder gelungen, zu einem der Gesprächsthemen abseits der Corona-Debatten zu werden: 64 Millionen Amerikaner haben die Eigenproduktion "Tiger King" gesehen, selbst US-Präsident Donald Trump ist während einer Pressekonferenz gefragt worden, ob er diesen Züchter mit dem Künstlernamen Joe Exotic begnadigen könne. Die Reality-Dating-Show "Love is Blind" sahen 30 Millionen, das Krimi-Drama "Ozark" 29 Millionen Leute. Auch in Deutschland ist Netflix sehr beliebt.

Diese Muss-man-gesehen-haben-Inhalte sind vor der Pandemie produziert worden, Netflix profitiert bei den aktuellen Quartalszahlen von einem buchhalterischen Kniff, den alle Firmen in der Branche anwenden: Das Unternehmen bezahlt Produzenten vorab, verrechnet die Kosten allerdings erst, wenn die Inhalte gezeigt werden. Das erklärt den hohen Gewinn, auch wenn das Unternehmen in diesem Jahr insgesamt etwa eine Milliarde Dollar an Verlusten einfahren dürfte. Netflix kommt aufgrund seiner Vielseitigkeit und mehr als 150 Millionen Stunden an Inhalten oft daher wie ein Füllhorn, doch das ist es nicht. Das mittelfristige Problem manifestiert sich in dieser Feststellung, die als Scherz durch soziale Netzwerke geistert: "Ich habe Netflix zu Ende geguckt." Heißt: Viele Leute haben so ziemlich alles gesehen, was sie sehen wollten.

Das Abo lässt sich unkompliziert kündigen, es gibt mittlerweile zahlreiche Konkurrenten, die auch Muss-man-gesehen-haben-Inhalte besitzen. Der Disney-Konzern vor allem, der für sein im März auch in Deutschland gestartetes Streamingportal Disney Plus seinen Tresor geöffnet hat und weltweit bereits mehr als 50 Millionen Abonnenten verzeichnet. "Ich habe noch nie erlebt, dass jemand das so gut hinbekommen hat", sagte Netflix-Chef Reed Hastings beim Telefonat mit Experten. Daneben gibt es in Deutschland Amazon-Prime, Sky und weitere Streaming-Portale wie Joyn. Auch die Mediatheken der großen Sender registrieren mehr Zuspruch.

Der große Vorteil zahlreicher Streamingportale wie Netflix: Sie müssen nicht auf Live-Sport setzen, wie viele traditionelle TV-Sender und einige Portale wie Sky oder Dazn, die in Ermangelung aktueller Veranstaltungen nun Dokus oder alte Fußballspiele zeigen. Die Streamingdienste sind zudem nicht abhängig von TV-Werbeeinnahmen, die einer Analyse von Emarketer zufolge allein in den USA in diesem Jahr um zwölf Milliarden Dollar sinken werden.

Kurz- und mittelfristig sieht es gut aus für Streamingportale. Nur: Werden die Leute ihre Abos kündigen, wenn die Pandemie vorbei sein wird? "Jemand, der während der Quarantäne kein Abo abgeschlossen hat, wird es wohl auch nicht kurz danach tun", heißt es im Netflix-Statement. Firmenchef Hastings ergänzte beim Telefonat: "Wir sind wirklich unsicher, was die Zukunft bringen wird." Hoffnungsfroh klingt das nicht.

Der Verdrängungswettbewerb dürfte künftig mit härteren Bandagen geführt werden, zudem ruhen derzeit wegen Corona viele Produktionen von Serien und Filmen. "Die Leute sind auf Streamingportalen unterwegs wie nie zuvor", sagt Steve Nasen von der Analysefirma Parks Associates. Es liege eine schwere Zeit vor allen Firmen, die nicht genügend eigene Inhalte besitzen, um sie über die kommenden neun bis zwölf Monate so zu verteilen, dass das Angebot für Abonnenten frisch gehalten wird: "Es wird schwierig - gerade dann, wenn neue Firmen mit neuen Inhalten auf den Markt kommen. Allerdings ist keiner so breit aufgestellt wie Netflix." Na dann.

(Foto: Boerse)
© SZ vom 23.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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