Unterhaltung:Spielen mit Netflix, wetten mit Disney

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Netflix noch ganz klassisch: Mit dem Animationsfilm "Apollo 10 1/2: Eine Kindheit im Weltraumzeitalter" erzählt der Anbieter die Zeit der Mondlandungen aus Sicht eines Zehnjährigen in Houston. (Foto: AP)

Es gibt mittlerweile so viele Streaming-Portale, dass kaum jemand mehr durchblickt. Nun ändern einige von ihnen ihre Strategie: Netflix will Videospiele produzieren, Disney ins Sportwetten-Geschäft einsteigen. Lohnen sich Filme und Serien nicht mehr?

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

"Pivot!" Viele werden sich an den wunderbaren Moment in der TV-Serie "Friends" erinnern, in dem Ross, Rachel und Chandler versuchen, eine Couch die Treppe hochzutragen und Ross völlig verzweifelt brüllt: "Pivot. Pivot! Pivoooot!" Pivot bedeutet "drehen". Im Firmenjargon steht der Begriff aber auch für die Anpassungen der Strategie, und genau das passiert gerade bei jenen Portalen, die mit teils unfassbaren Summen darum buhlen, solch unvergessliche popkulturelle Momente zeigen zu dürfen. In den USA läuft "Friends" derzeit bei HBO Max, das 425 Millionen Dollar über fünf Jahre für diese Rechte bezahlt.

Vorher war die Serie bei Netflix zu sehen. Das Unternehmen bezahlte zunächst 30 Millionen Dollar pro Jahr, in der Spielzeit 2019 gar 100 Millionen. Seit zwei Jahren läuft "Friends" in den USA bei HBO Max, Anfang 2022 verschwand es in Ländern wie Japan, Südkorea und der Türkei aus dem Netflix-Katalog. In Deutschland dürfte es dort noch ein paar Jahre zu finden sein. Klingt kompliziert, und das ist es auch - vor allem führt es dazu, dass es im Streaming-Dschungel für Plattformen nun heißt: Pivot! Bei Netflix bedeutet dies: hin zu Videospielen.

Der Konzern hat drei Videospiel-Entwickler übernommen: kürzlich Boss Fight Entertainment für einen nicht kommunizierten Millionenbetrag, kurz davor für 72 Millionen Dollar Next Games und bereits im September für geschätzte 40 Millionen Dollar Night School Studio. Sie haben Mike Verdu geholt, der davor bei Electronic Arts und Facebook war. Er verantwortet die Videospiel-Sparte, wo für Netflix-Abonnenten seit November Spiele verfügbar sind, wie zum Beispiel ein Ableger der erfolgreichen Serie "Stranger Things".

Zu seiner erfolgreichen Serie "Stranger Things" bietet Netflix nun auch ein Videospiel an. (Foto: Netflix/dpa)

Das Grundkonzept, ein popkulturelles Phänomen in gleich mehreren Sparten zu vermarkten, ist nicht neu. Jene Menschen, die ihre Zeit mit Computerspielen und Filmschauen zubringen, dürften sich an die Indiana-Jones-Videospiele erinnern oder an die Komplett-Verwertung der Star-Wars- und Superhelden-Universen. Die Strategie von Verdu ("Wir wollen für die Nutzer zwischen Spielzeiten und Filmen eine Verbindung herstellen zu den Geschichten, die sie lieben") klingt deshalb weniger interessant als das, was Netflix-Chef Reed Hastings bereits im Frühling 2019 zur SZ gesagt hat. Manche Branchenbeobachter kritisierten damals, es sei kurzsichtig, nur auf Filme und Serien zu setzen, angesichts der vielseitiger aufgestellten Konkurrenten wie Amazon, Apple und Disney. "Wir reden sehr häufig darüber, was wir nicht sein wollen", sagte Hastings damals: "Wir sind nicht: Livesport, News, Virtual Reality. Nun wissen Sie recht genau, wer wir sein wollen." Er sagte nämlich auch, dass er einen besseren Maßstab für Erfolg kenne als nur die Zahl der Abonnenten: "Die Zeit, die jemand auf unserem Portal verbringt. Das ist unabhängig messbar und dann auch vergleichbar, und zwar nicht nur zwischen Streamingportalen, sondern auch zwischen Netflix und sozialen Netzwerken oder dem Videospiel Fortnite."

Attention Economy nennen sie das Monetarisieren der Aufmerksamkeit. "Es geht um viel mehr als nur reinen Konsum - die Beziehung zwischen Plattform und Kunden hat sich völlig verschoben, seit TV-Sender nicht mehr sagen: Das läuft zu der Zeit, und wenn soundso viele Leute einschalten, können wir soundso viel für Werbeinseln verlangen", sagt Julia Alexander von Parrot Analytics, das Streamingportale bei strategischen Entscheidungen berät. Die Fragen seien andere mittlerweile: "Wer erstellt Edits bei Tiktok? Wem gelingt es auf Twitter, Leute in Aufregung zu versetzen? Wie stellt man einzelne Folgen für Leute bereit, die noch keine Abonnenten sind - jedoch am Thema interessiert sind? Oder, zum Beispiel: Teenager verbringen sehr viel Zeit damit, eigene Inhalte zu erstellen über Filme und Serien, die sie auf Portalen sehen." Daraus entstehe ein neues Genre, und das führt dazu, dass mehr Leute mehr Zeit auf dem Portal verbringen.

Alle buhlen um die Zeit der Leute

Alle buhlen um die Zeit der Leute, die ein Abo nur dann nicht kündigen, wenn sie glauben, dass sie so viel Zeit auf einem Portal verbringen, dass es sich lohnt. Netflix (derzeit etwa 226 Millionen Abonnenten) will deshalb strenger gegen das "Account Sharing" vorgehen, bei dem ein Abonnent die Zugangsdaten mit anderen teilt. Stattdessen will der Dienst Zusatzabos zum Sonderpreis anbieten, vielleicht sogar Werbung. Bei den Inhalten hat Netflix Videospiele ausgemacht. Allerdings gilt diese Branche als extrem schwierig - selbst Amazon und Google scheiterten mit Videospielen.

Es gibt bereits jetzt viel zu viele Streamingportale, und es ist ein heilloses Durcheinander, gerade in den USA. Nur ein Beispiel von vielen: Disney hat die Plattform Disney+, das Sportportal ESPN+ und Hulu. Das aber zeigt wie ESPN+ Live-Sport und bekommt auch Inhalte von NBC. Und NBC wiederum hat das eigene Portal Peacock. Das Pivot von Disney ist nun der mögliche Einstieg ins Sportwetten-Geschäft aufgrund der vielen Sportrechte. Geschäftsführer Bob Chapek sagte kürzlich über diese Hinwendung zum Lasterhaften: "Aufgrund des Verhaltens gerade junger Zuschauer wollen wir Wetten als Teil der Erfahrung integrieren".

Disney bietet über seinen Sportkanal ESPN auch ein Streamingportal und könnte seine Sportrechte nun für Sportwetten nutzen. (Foto: mpi34/MediaPunch/imago images)

Für Kunden ist der Konkurrenzkampf der Portale erst mal positiv. Dude With a Sign, ein erfolgreicher Satire-Instagram-Account mit Botschaften, die witzig sind, weil sie wahr sind, hatte aber bereits zum Ende des Portals Quibi festgestellt: "Nö, wir brauchen nicht noch mehr Portale". Quibi war mit vier Milliarden Dollar Startkapital ausgestattet und wollte die Branche mit Zehn-Minuten-Videos revolutionieren. Das hat vor allem gezeigt, dass es dann doch nicht reicht, einfach nur möglichst viele Inhalte zu veröffentlichen.

Was indes häufig funktioniert: die Fusion zweier Riesen zu einem Giganten. Am Freitag wurde der Zusammenschluss von Warner Media und Discovery verkündet. Zu den ersteren gehören unter anderem HBO Max, der News-Kanal CNN und das Cartoon Network gehört. Und auf dem Portal Discovery+ sind bereits mehr als 55 000 Stunden an Dokus und Reality-TV-Formaten abrufbar. "Das könnte das breiteste Angebot auf dem Markt werden", sagt Jessica Reif, Analystin der Bank of America. Manchmal ist dann doch kein Strategiewechsel nötig, sondern ganz viel Schubkraft. Hätte das mal jemand Ross von "Friends" beim Couch-Transport gesagt, aber der wollte ja unbedingt: "Pivot!"

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