Die meisten Kunden waren schnell bereit, das Geld anderweitig anzulegen, zum Beispiel in Fonds, bei denen keine Negativzinsen fällig werden. Manche zogen ihr Geld auch ab, einer wechselte in den Tagen danach mit zwei Millionen Euro zur Sparkasse. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass die darüber glücklich war", sagt Paul trocken. Er könne den Verlust von Kunden verschmerzen, die ihr Geld "nur herumliegen und nicht arbeiten lassen". Seine Bilanz fällt nach neun Monaten jedenfalls positiv aus: Aus 40 Millionen Euro Liquidität sind 24 Millionen geworden, das kostet die Bank im Jahr 56 000 Euro weniger.
Josef Paul geht zu seinem Schreibtisch und holt ein Blatt Papier. Auf ihm stehen 18 Zeilen mit ungeraden Beträgen von 33,33 Euro oder 66,67 Euro. Es ist die Liste der noch 18 Privat- oder Firmenkunden, die mehr als 100 000 Euro bei ihm kurzfristig angelegt haben. Den Negativzins kassiert er jeden Monat von ihnen. Er berechnet ihn in Schritten von 100 000 Euro. Daher die ungeraden Zahlen: Ein Zins von 0,4 Prozent auf 100 000 Euro ergibt 33,33 Euro im Monat. Der höchste Betrag auf der Liste liegt bei 299,97 Euro, was heißt, dass der Kunde mehr als 900 000 Euro auf dem Girokonto liegen hat.
Josef Paul hatte damit gerechnet, dass mancher Kunde verärgert reagiert, aber da war nicht viel. "Die meisten haben Verständnis dafür", sagt er. Überhaupt ist er gut aus der Aktion herausgekommen, auch in der Öffentlichkeit. Ein Banken-Fachblatt porträtierte ihn unter der Überschrift "Ein mutiger Banker", in einer Zeitung war er der "Kopf des Tages". Nur in einer anonymen E-Mail fragte ihn jemand: "Müssen Sie aus kurzfristigem Nutzen Kunden verprellen, die Sie später wieder brauchen?" Das war aber die Ausnahme. Zwei Wochen lang bearbeitete Paul Briefe, E-Mails und andere Reaktionen, die meisten waren positiv. Vielleicht liegt es ja daran, dass da jemand nicht herumdruckst, wie man es aus der Branche gerade seit Ausbruch der Finanzkrise kennt, verschämt Gebühren einführt, die im Kleingedruckten versteckt sind, sondern klar sagt: So ist die Lage, das sind meine Kosten, die muss ich weitergeben. Vielleicht verstehen die Kunden das.
Paul seinerseits versteht nicht, warum seine Bank immer noch die einzige in Europa ist, die so verfährt. "Mir hat noch niemand erklären können, warum das so ist", sagt er. Die gängigen Erklärungen überzeugen ihn nicht: Dass man Angst habe vor dem Imageschaden, dass man Kunden nicht vergraulen wolle.
Vielleicht kann es ja Martin Mihalovic erklären, der Chef der Kreissparkasse Miesbach-Tegernsee. Er ist der Mann, der von Josef Pauls Aktion eigentlich profitieren müsste. Mihalovic, 48, sitzt in seiner Zentrale in Miesbach, zehn Kilometer von Gmund entfernt. Im Besprechungsraum war vorher eine Teamsitzung, auf dem Flipchart steht noch der Satz: "Feedback = Kommunikation x Haltung x Beziehung." Mihalovic ist ein Sparkassler der jüngeren Generation, man erkennt es daran, dass er Schuhe mit modischer Doppelschnalle trägt und keine Krawatte.
Wie war das im August, als Konkurrent Paul den Negativzins ankündigte? "Der ein oder andere ist schon zu uns gewechselt, aber es war nicht so, dass die Leute mit Schubkarren voll Geld reinkamen", sagt Mihalovic. Das liegt vermutlich auch daran, dass die Raiffeisenbank Gmund deutlich kleiner ist als die Kreissparkasse, die den gesamten Landkreis Miesbach abdeckt und nicht nur vier Orte rund um den Tegernsee. Die Sparkasse hat auch deutlich mehr Firmenkunden, es fällt ihr leichter, die Einlagen als Kredite zu verleihen. Die Liquidität, auf die Negativzinsen fällig sind, schwankt zwischen vergleichsweise niedrigen 20 und 40 Millionen Euro.
Für Josef Paul hat der Negativzins etwas sehr Positives
Mihalovic hat Verständnis für seinen Konkurrenten aus Gmund. Andererseits findet er einen Negativzins für Privatkunden schwierig. "Wir sind dem Kunden über Jahrhunderte hinterhergelaufen und haben ihm gesagt, er soll uns sein Geld bringen", sagt er. Da könne man nicht, wenn es mal eine Zeitlang anstrengender werde, von seinem Ersparten nehmen. Er glaubt, dass dies das Vertrauen der Kunden belastet, das wolle er unbedingt vermeiden, sagt er und drückt damit aus, was die Mehrheit der deutschen Banker denkt.
Josef Paul aber schwimmt weiter gegen den Strom. Er findet sogar, dass der Negativzins etwas Positives hat: "Er macht den Leuten bewusst, dass sie ihr Geld in die Arbeit schicken müssen und nicht herumliegen lassen sollen", sagt er. Sie sollten es in attraktivere Anlagen investieren, in den Aktienmarkt, in besser verzinste Anleihen, das sei gerade für die Altersvorsorge wichtig. "Ausländer vertrauen den deutschen Unternehmen mehr als wir selbst. Warum schaffen wir es nicht, in unsere eigenen Unternehmen zu investieren?", fragt der Bankchef vom Tegernsee. Gerade organisiert er eine Ausstellung, in der er den Leuten erklären will, wie Geldanlage richtig geht, Seeblick inklusive.
Den Negativzins will er auf jeden Fall beibehalten, solange ihn auch die EZB verlangt. "An dem Tag, an dem der Draghi den Strafzins abschafft, an dem stellen wir auch die Abrechnung ein", kündigt er an. Es besteht also eine Chance, dass sich die Wogen am Tegernsee wieder glätten.