Süddeutsche Zeitung

Nahrungsergänzung:Wenn Vitaminpillen krank machen

Lesezeit: 3 min

Von Kristiana Ludwig und Kathrin Zinkant, Berlin

Vitamin C beugt Schnupfen vor, Magnesium hilft bei Krämpfen - das sind Weisheiten, die vielen Bürgern geläufig sind. Jeder Dritte nimmt mittlerweile Kapseln oder Pulver zu sich, die das tägliche Essen ergänzen und die Gesundheit verbessern sollen. Mehr als eine Milliarde Euro geben Menschen in Deutschland pro Jahr für Nahrungsergänzungsmittel aus. Dass Vitamine und Spurenelemente auch Nebenwirkungen haben können, wird in der Öffentlichkeit dagegen noch immer nicht wahrgenommen.

Der Verbraucherzentrale Bundesverband hat nun vor ihrer sorglosen Einnahme gewarnt. "Die meisten Menschen sind ausreichend mit Nährstoffen versorgt", sagte dessen Vorstand Klaus Müller. Wenn man gesund ist, hätten Mineral- und Vitaminpillen "keine gesundheitsfördernde Wirkung". Im Gegenteil. Einer aktuellen Studie zufolge ist etwa die Dosierung von Magnesium in 64 Prozent der untersuchten Präparate weit über der empfohlenen Tagesdosis. Anstatt Wadenkrämpfen vorzubeugen, erzeugen die Tropfen aus der Apotheke deshalb Durchfall und andere Verdauungsprobleme.

Zwischen gut und giftig gibt es nur einen kleinen Bereich, in dem die Dosis stimmt

Wissenschaftler warnen schon seit vielen Jahren vor den Folgen unnötig eingenommener Supplemente. Der Grund: Mehrere Studien zu Vitamin-Tabletten haben auf teils dramatische Weise die Idee widerlegt, zusätzliche Vitamine würden vor Krebs schützen. Tatsächlich ist beim Möhren-Vitamin Betacarotin und dem bei älteren Menschen für die Gelenke beliebte Vitamin E das Gegenteil der Fall: Mehrfach mussten Studien abgebrochen werden, weil sich Krebserkrankungen unter den Vitaminpillenschluckern häuften. Besonders bedrückend war dieser Effekt in einer US-amerikanisch-finnischen Studie, die zwischen 1985 und 1993 eine Einnahme von Betacarotin bei Rauchern untersuchte. Anstatt die Nikotinabhängigen vor Lungenkrebs zu schützen, erhöhte das Vitamin das Risiko dieser lebensbedrohlichen Erkrankungen massiv. Auch diese Studie wurde abgebrochen.

Heute sind solche und andere Gesundheitsrisiken für eine ganze Reihe von Nahrungsmittelzusätzen bekannt. Das Bundesinstitut für Risikobewertung in Berlin führt lange Listen zu sämtlichen Nahrungsergänzungen, in denen nicht nur die Grenzen zum Mangel festgelegt werden. Für die meisten Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente existieren auch Toleranzgrenzen nach oben, die von der Wissenschaftlichen Kommission der Europäischen Lebensmittelbehörde als "upper limits" festgelegt werden. Es handelt sich nur selten um astronomisch große Mengen, bisweilen reicht das Doppelte der empfohlenen Tageszufuhr, um über längere Zeiträume körperliche Schäden zu provozieren. Vor allem fettlösliche Vitamine, die sich im Körper anreichern können, sind davon betroffen.

So liest sich das Risikoprofil zu Vitamin A wie das eines Giftes: Zusätzlich zu einer ausgewogenen Ernährung eingenommen, kann Vitamin A die Leber schädigen, die Knochendichte herabsetzen und Missbildungen beim Kind hervorrufen. Die Krux dabei ist, dass Vitamin A für eine gesunde Entwicklung des Ungeborenen zugleich essenziell ist. Zwischen gut und giftig gibt es demnach nur einen kleinen Bereich, in dem die Dosis stimmt. Mit hoch dosierten Ergänzungen ist er fast automatisch übertroffen.

Verbraucher glauben, dass Vitaminpillen wie Medikamente geprüft werden

Viele dieser Probleme sind lange bekannt. Dennoch werden die Pillen und Pülverchen noch immer nur als Lebensmittel geprüft - also darauf, ob sie hygienisch sind und regelkonformbeschriftet und verpackt sind. Die Verbraucherschützer fordern, dass für Nahrungsergänzungsmittel eine Zulassungspflicht mit Sicherheitsüberprüfung eingeführt wird. Schließlich glauben einer Forsa-Umfrage zufolge mehr als die Hälfte der Befragten, dass die Vitaminpillen, die sie in der Apotheke oder im Drogeriemarkt kaufen, genauso geprüft wurden wie die Medikamente. Tatsächlich kontrollieren die Behörden der Bundesländer die Hersteller nur stichprobenartig. Jährlich werden mehr als 5000 neue Produkte beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) angemeldet.

Das BVL versucht im Auftrag der Länder, zumindest dem Internethandel mit verbotenen Substanzen etwas entgegen zu setzen. Gegen Pillen, die durch Überdosierung zu Schäden führen, können aber auch diese wenig unternehmen. Es fehlt ein Gesetz auf EU-Ebene. Doch das Thema sei heikel, sagt der EU-Agrarpolitiker Martin Häusling (Grüne). Schließlich handele es sich bei Nahrungsergänzung nicht um Schadstoffe. Die Präparate seien ein Milliardengeschäft der Lebensmittelindustrie.

Auch vom Bundeslandwirtschaftsministerium heißt es, es sei "zu schlussfolgern, dass Vorschläge für eine entsprechende Höchstmengenregelung seitens der EU-Kommission in absehbarer Zeit nicht zu erwarten sind". Man prüfe deshalb eine nationale Regelung. Beim Spitzenverband der Lebensmittelwirtschaft BLL stoßen solche Ideen auf Unverständnis: "Nationale Alleingänge sind nur Scheinlösungen und führen zu Wettbewerbsnachteilen", sagt dessen Hauptgeschäftsführer Christoph Minhoff. Eine Zulassungspflicht hält er für "überflüssig".

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SZ vom 19.01.2017
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