Nahaufnahme:Was weiß Tinder?

Nahaufnahme: „Als ich meine Gespräche durchgesehen habe, habe ich gemerkt, dass ich mich nicht so nett verhalten habe, wie ich dachte.“ Judith Duportail.

„Als ich meine Gespräche durchgesehen habe, habe ich gemerkt, dass ich mich nicht so nett verhalten habe, wie ich dachte.“ Judith Duportail.

(Foto: oh)

Die französische Journalistin Judith Duportail hat nachgefragt - und 800 Seiten bekommen.

Von Marvin Strathmann

920 Mal hat Judith Duportail die Dating-App Tinder geöffnet, 870 Männer kennengelernt und 1700 Nachrichten geschrieben. Duportail hat nicht akribisch mitgezählt, das hat Tinder für sie getan. Duportail hat das Unternehmen nach ihren Daten gefragt, die sie in den vergangenen vier Jahren produziert hat. Und Tinder hat ihr 800 Seiten geschickt. Darin kann sie nachlesen, wie alt die Männer sind, die sie kennenlernen wollte, und auch, worüber sie mit ihnen gechattet hat: ihr komplettes Online-Liebesleben aus vier Jahren.

Die Französin Duportail ist freie Journalistin, sie lebt in Berlin und Paris, schreibt hauptsächlich für Online-Magazine wie Vice oder Slate. "Vor einem Jahr habe ich angefangen, mich mehr mit Privatsphäre zu beschäftigten, vor allem wegen der gezielten Werbung bei Facebook zur US-Wahl", sagt sie. "Und da gerade Tinder sehr viele und vor allem auch sehr intime Informationen über mich hat, wollte ich wissen, welche Daten das Unternehmen speichert."

Hilfe für ihre Datenanfrage, die sie für den Guardian aufgeschrieben hat, bekam Duportail vom Schweizer Datenschutzaktivisten Paul-Olivier Dehaye. Eine automatisierte Anfrage gibt es nicht, die Nutzer müssen sich per E-Mail an Tinder wenden. Meist komme aber keine Antwort. Selbst die Journalistin Duportail hat nicht alle Daten bekommen. Beispiel: Tinder ermittelt für jeden Nutzer einen Attraktivitätswert. Ein Algorithmus berechnet, wie gut der Nutzer bei anderen ankommt. Welche Faktoren dabei eine Rolle spielen und welche Punktzahl ein Nutzer erreicht, verrät Tinder nicht. Auch in den 800 Seiten über Duportail fehlt dieser Wert.

Datenschutzaktivist Dehaye hat sich bei zwei Datenschutzstellen beschwert, einen Anwalt für Menschenrechte um Hilfe gebeten und mit Verantwortlichen bei Tinder geredet - ohne Erfolg. Der Attraktivitätswert bleibt ein Geheimnis. Und Tinder hat weitere Geheimnisse: Was macht die Firma mit den Daten? Tinder bleibt vage: Diese sollen für bessere Partnervorschläge sorgen. Tinder nutzt die Daten aber auch für personalisierte Werbung.

Für Duportail war es überraschend, wie viele Informationen Tinder über sie gesammelt hat. "Als ich meine Gespräche durchgesehen habe, habe ich gemerkt, dass ich mich nicht so nett verhalten habe, wie ich dachte", sagt sie. Einmal habe sie 16 Menschen gleichzeitig geschrieben und sich dann nicht mehr gemeldet. Tinder hat das aufgezeichnet. Die Daten zeigen auch ihre Dating-Taktiken. Etwa als sie denselben Witz an drei Tinder-Bekanntschaften hintereinander schickte.

Beim Datenschutz ist Tinder allerdings brutal ehrlich: "Obwohl wir Schritte zum Schutz Ihrer Informationen unternehmen, versprechen wir ... nicht, dass Ihre persönlichen Informationen, Chats oder sonstige Kommunikation immer sicher bleiben werden, und Sie sollten dies auch nicht erwarten", heißt es. Tinder gibt damit seine Verantwortung ab: Daten wurden gestohlen? Da konnten wir leider nichts machen.

Würde ein Hacker an alle Daten von Tinder herankommen, dann hätte er umfangreiche Informationen über das Liebesleben von weltweit 50 Millionen Nutzern. Tinder sammelt aber auch Daten seiner Mitglieder über Likes auf Facebook und speichert deren Instagram-Bilder. Auch andere Apps und Webseiten speichern unzählige Daten: Als der Datenschutzaktivist Max Schrems 2011 von Facebook wissen wollte, welche Daten es über ihn speichert, erhielt er 1222 PDF-Seiten. Darunter auch Daten, die er vermeintlich gelöscht hatte.

Duportail hat Konsequenzen gezogen, sie nutzt verschlüsselte Dienste. Tinder ist noch auf ihrem Smartphone installiert, sie möchte diese App aber weniger nutzen und keine privaten Informationen mehr darüber teilen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: