An ihrer Aufgabe im Finanzministerium von Liberia war vieles ungewöhnlich. Am Monatsende demonstrierten Lehrer, weil der Lohn ausblieb. Polizisten verhinderten, dass sie in das Gebäude gelangten, in dem Philippa Sigl-Glöckner für Tony Blairs Stiftung Ministeriale beriet. Noch ungewöhnlicher fand die Beraterin, dass der Finanzminister sie direkt nach ihrer Ankunft 2015 fragte: "Wie viel Geld darf ich ausgeben?"
Sigl-Glöckner bemühte die Euro-Schuldengrenze, doch das überzeugte den Minister nicht. Sie grübelte: Was einem afrikanischen Land raten, dem Schulden gefährlich werden können, das aber nur über drei geteerte Straßen verfügt? "Mir fiel auf: Die Lehrbücher kannst du in die Tonne treten."
Fragen wie die nach den richtigen Schulden treiben Sigl-Glöckner um, die mit gerade 30 Jahren schon internationale Jobs hatte, mit anderen Ökonomen eine Denkfabrik startete und das Büro von Staatssekretär Wolfgang Schmidt im Bundesfinanzministerium leitet. Kein Wunder, dass wieder eine Jury sie in eine Gruppe junger Vordenker wählte. Ihr Lebenslauf wirkt ja wie vom Headhunter erfunden: Studium in Oxford, Beratungsfirma in London, Weltbank ...
Dann regte sich etwas, was Headhunter meist weniger wichtig finden: ein Gewissen. Die Weltbank hatte sie wegen Ebola nach Sierra Leone geschickt. Dort erlebte sie, wie Totengräber Leichen auf die Straße warfen, weil sie keinen Lohn bekamen, während sich UN-Bürokraten vornehmlich darum kümmerten, Privatjet zu fliegen. "Das war das Scheußlichste, was ich je erlebt habe, weil es nicht um die sterbenden Menschen ging. Ich wollte kein Teil dieses Systems mehr sein."
Zurück nach Deutschland, auf eine Ökonomenstelle im Finanzministerium, trieb die Münchnerin noch etwas anderes: Sie findet den Spardruck falsch, den die Bundesregierung in der Euro-Krise auf Südeuropa ausübte - und will die Debatte verändern. Sie ist inzwischen zu der Position gelangt, Staaten hätten oft übertriebene Angst vor Schulden. Den deutschen Staat etwa hindere die Schuldenbremse, Sozialkräfte wie Erzieher und Pflege deutlich besser zu bezahlen, was sie für dringend nötig hält. Ihre Haltung passt zu den enormen Staatsausgaben in der Corona-Krise. Sie passt nicht zur schwarzen Null im Etat, die Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz vor Corona feierte. Bemerkenswert also, dass Staatssekretär Wolfgang Schmidt, einer der engsten Scholz-Berater, ausgerechnet sie fragte, ob sie seine persönliche Referentin werden wolle. Als Sigl-Glöckner ihn auf mögliche Debatten hinwies, antwortete er: "Sie haben den Job!"
So war sie Teil des Regierungsapparats, der binnen Kurzem eine Antwort auf die Pandemie finden musste. Der Wahnsinn jener Wochen zeigte sich in Momenten wie dem, als sie von einer einstündigen Veranstaltung zurückkehrte - und 240 neue Mails vorfand. Gerade ist sie freigestellt, weil sie sich bis September SPD-intern für den Bundestagswahlkreis München-Nord bewirbt, in dem allerdings der Abgeordnete Florian Post im Sattel sitzt.
So oder so verlegt sich die frühere Weltbank-Mitarbeiterin darauf, für eine neue ökonomische Politik zu werben. In der Regierung, in ihrer Denkfabrik Dezernat Zukunft oder sonstwo. Der Staat soll selbstbewusster Geld ausgeben, die Wirtschaft mehr der Gesellschaft dienen - und Arbeit gerade bei Dienstleistungen besser bezahlt werden: "Dass Deutschland im europäischen Vergleich einen so hohen Anteil an Niedriglöhnern hat, kann man niemandem erklären." Dazu schlägt sie gleich einen Mindestlohn von zwölf Euro die Stunde vor. Das immerhin hat auch ihr oberster Dienstherr Olaf Scholz schon mal gefordert.