Süddeutsche Zeitung

Nahaufnahme:Junganwalt mit 61

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Michael Sell leitete lange die Steuerabteilung im Finanzministerium, dann wurde er in den Ruhestand geschickt. Nun klagt er gegen den Soli - nur eine Retourkutsche?

Von Cerstin Gammelin

Das kommt nicht alle Tage vor: Ein Rechtsanwalt, der im Bundesfinanzministerium unter Wolfgang Schäuble (CDU) lange die Steuerabteilung geleitet hat, klagt gegen die Erhebung des Solidaritätszuschlags über 2019 hinaus; er will das Prestigeprojekt des SPD-Finanzministers Olaf Scholz kippen - der ihn nach Amtsantritt vor einem Jahr in den einstweiligen Ruhestand versetzt hatte. Hängt das eine mit dem anderen zusammen? Man ruft an bei Michael Sell. Und bekommt eine klare Antwort. "Natürlich nicht. Wann kriegen Sie denn schon mal als 61 Jahre alter Junganwalt so ein Mandat für eine Musterklage?"

Klingt kokett, stimmt aber: Sell arbeitet erst seit seiner Versetzung als Anwalt. Mitte August hat er beim Finanzgericht Nürnberg die Klage gegen den Soli von 2020 an eingereicht. Formal ist die Sache simpel: Sell vertritt ein Ehepaar aus Bayern, das sich daran stößt, dass der Soli-Zuschlag noch gezahlt werden soll, obwohl der Solidarpakt II zum Aufbau der neuen Bundesländer 2019 ausläuft. Bemerkenswert ist aber doch, dass Sell sie an jenem Tag bei Gericht eingereicht hat, an dem Scholz seinen Gesetzentwurf zum Soli durch das Bundeskabinett brachte. Ein Zufall? "Der Tag schon, die Kabinettswoche nicht, denn die Klagefrist lief wenige Tage später ab."

Sell ist es wichtig, den Verdacht auszuräumen, die Klage sei eine Art Retourkutsche gegen Scholz. "Jeder Minister holt sich seine politischen Beamten", sagt er. Scholz eben auch. Andererseits gelte aber auch: "Unterschiedliche Rechtsansichten müssen, wenn nicht vorher politisch gelöst, eben juristisch ausgetragen werden."

Wegen der Musterklage sei der Bund der Steuerzahler auf ihn zugekommen. Er vertrete die Kläger in einem Musterprozess, übrigens ohne Bezahlung. "Das ist eine Sache von Prinzipien." Er sei überzeugt, dass die teilweise Abschaffung des Soli-Zuschlags "nicht gerichtsfest ist".

Sell weiß, wovon er spricht. Geboren im Ruhrgebiet, studiert er Jura, "auch ein bisschen Finanzwissenschaft und Geschichte mit Abschluss". Mit 17 Jahren tritt er in die CDU ein. Der Volljurist startet in einer der Big Four, der vier größten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, lange bleibt er nicht: Er habe nicht sein Leben lang ausländische Kunden über Steuersparmodelle aufklären wollen. Sell wechselt ins Finanzministerium, dann ins Bundeskanzleramt, erlebt die letzten Jahre des Kanzlers Helmut Kohl, bleibt unter Rot-Grün und wird von Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier mehrfach befördert - das Parteibuch ist unwichtig. Es folgen vier Jahre in der Finanzaufsicht, bevor er Chef der Steuerabteilung im Finanzministerium wird. Bis Scholz seine eigenen Leute platziert.

Man könnte sich vor dem Bundesverfassungsgericht wiedersehen. Sell als Vertreter der Kläger; das Finanzministerium für die Bundesregierung. Scholz, selbst Rechtsanwalt, wird wissen, dass es wackelig werden kann. Er argumentiert, dass der Soli weitgehend abgeschafft werde, weil nur Spitzenverdiener und Unternehmer weiterzahlten: Der Aufbau Ost sei ja nicht abgeschlossen. Sell hält dagegen, dass mit dem neuen Länderfinanzausgleich von 2020 an die finanzpolitische Sonderlage für die neuen Länder offiziell beendet werde, der Soli aber eben nicht. Von 2021 an verbleibe die Hälfte des Aufkommens, gezahlt von zehn Prozent der Steuerzahler. "Das erscheint mir keine weitgehende Abschaffung."

Die Krux ist, dass beide Seiten die juristisch einwandfreie Lösung zum Soli längst kennen: Der Soli wird von 2020 an aufgehoben und die entsprechenden Einnahmen durch einen höheren Einkommen- und Körperschaftsteuertarif erzielt. Darauf hatten sich einst Schäuble und Scholz, damals als Erster Bürgermeister von Hamburg, verständigt. Doch die Union legt bis heute ihr Veto ein.

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SZ vom 09.09.2019
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