Sie ist Emails mit dramatischem Inhalt gewöhnt, aber das, was sie derzeit liest, rührt auch Helena Steinhaus besonders: Da freut sich eine Mutter, dass sie doch noch frisches Obst auf den Geburtstagskuchen fürs Kind legen konnte oder sie die dringend benötigten Schuhe für die Teenager kaufen konnte. Solche Nachrichten bekommt Steinhaus quasi täglich - denn seit Corona hat sich die Arbeit der Gründerin des Berliner Vereins "Sanktionsfrei" stark verändert.
Eigentlich kümmert sich die 32 Jahre alte Aktivistin seit dem Jahr 2015 um das, was der Vereinsname nahelegt: Sie hilft mit einem Team Hartz-IV-Empfängern, die von Sanktionierungen durch Jobcenter betroffen sind, sich juristisch gegen Sanktionen zu wehren und zahlt Menschen Geld, damit sie trotz der Einschränkungen über die Runden kommen.
Seit dem Beginn der Corona-Krise hat sich ihre Aufgabe allerdings stark verändert. Zum einen, weil die Jobcenter die Verhängung von Sanktionen seit Anfang April aussetzen. Zum anderen haben sich dennoch für sehr viele Menschen die Lebensbedingungen verschlechtert: Beispielsweise sind die Lebensmittelpreise gestiegen, zudem viele Minijobs weggefallen. "Seit April sind schlicht die Monate teurer", sagt Steinhaus. "Im Ergebnis reicht das Geld oft für die Grundbedürfnisse nicht", sagt sie, "beispielsweise frisches, gesundes Essen".
Verteuert wird der Alltag dabei auch durch "die strukturelle Veränderung des Alltags", wie Steinhaus es nennt: Viele Kinder bekommen keine kostenlose Schulspeisung mehr, und digitaler Schulunterricht beispielsweise setzt internetfähige Laptops voraus, die keinesfalls in jeder Familie vorhanden sind.
Die Folgen gehen dabei weit über materielle Einschränkungen hinaus. Besonders bei Familien, schließlich ist, rein rechnerisch, jeder dritte Hartz-IV-Empfänger ein Kind. Die finanzielle Mehrbelastung erhöht den Druck innerhalb der Familien", sagt sie. Nicht teilhaben zu können an manchen Dingen, sagt Steinhaus, "kann zu Scham und Rückzug führen und vermittelt immer das Gefühl, nicht richtig dazuzugehören."
Steinhaus kann das besonders gut nachfühlen. Als sie 17 Jahre alt war, war ihre Mutter, zuvor jahrelang Erzieherin, Hartz-IV-Empfängerin. Und auch als Steinhaus nicht gleich einen Job fand, nachdem sie Kulturwissenschaften studiert hatte, war sie auf staatliche Unterstützung angewiesen und weiß, mit welchen Schwierigkeiten und welchem Stigma die Bezieher von Hartz IV zu kämpfen haben - schon in einem Alltag ohne Pandemie.
Weil sich das alles durch Corona noch dramatisiert hat, hat sie im Mai mit mehreren Wohlfahrtsverbänden und Erwerbsloseninitiativen die Zahlung eines monatlichen Mehrbedarfs von 100 Euro für die Dauer der Corona-Krise gefordert - und das nicht nur für Familien, sondern für alle Hartz-IV-Empfänger. Bisher sind Steinhaus und ihre Mitstreiter damit auf Ablehnung gestoßen.
Das Team von Sanktionsfrei macht deshalb, wie Steinhaus sagt, "symbolisch einen Anfang". Weil für den Verein die Sanktionskompensationszahlungen wegfallen und andererseits Geldspenden für die Abfederung von coronabedingten Härten hinzugekommen sind, zahlen Steinhaus und ihr Team derzeit Geld an Familien. Eltern, die sich gemeldet haben, erhalten nach einem Zufallsauswahlprinzip einmalig 100 Euro. Seit dem Start der Aktion haben bereits mehr als 170 Familien den Betrag bekommen - und die Mitarbeiter von Sanktionsfrei sehr viele dankbare Emails.