Nahaufnahme:Für ihre schwerkranke Tochter

Nahaufnahme: "Ich verfolge ein kapitalistisches Modell, keinen philanthropischen Ansatz. Genau das erlaubt es uns, voranzukommen." Karen Aiach.

"Ich verfolge ein kapitalistisches Modell, keinen philanthropischen Ansatz. Genau das erlaubt es uns, voranzukommen." Karen Aiach.

(Foto: AFP)

Karen Aiach wurde Unternehmerin, um Leben zu retten. Jetzt will die Französin ihre Biotechfirma Lysogene an die Börse bringen.

Von Leo Klimm

Gestern London, heute Zürich, morgen wieder Paris. Karen Aiach kommt viel herum in diesen Tagen. Nächste Woche will die Französin ihre Biotechfirma Lysogene an die Börse bringen. Da gehört es dazu, zuvor an wichtigen Finanzplätzen für die neue Aktie zu werben. Investoren wollen gelockt werden mit einer Börsenstory. Also spricht Aiach vom Gewinnpotenzial und von den Aussichten ihrer Firma im Kampf gegen seltene Erkrankungen des Nervensystems - Ansätze, die eines Tages vielleicht sogar gegen Volksleiden wie Alzheimer helfen.

Hinter der Börsenstory der nüchternen Geschäftsfrau Aiach, 45, verbirgt sich aber eine andere Geschichte. Die Geschichte der Mutter Karen Aiach. "Mit Investoren spreche ich kaum darüber", sagt sie. Dabei erklärt erst diese Geschichte, warum eine medizinische Laiin, die einst als Beraterin für Bankenregulierung arbeitete, zur Gründerin eines vielversprechenden Start-ups auf dem Gebiet neurodegenerativer Krankheiten wurde.

Es war 2005, als bei Aiachs Baby Ornella das Sanfilippo-Syndrom diagnostiziert wurde. Ein seltener und unheilbarer Gendefekt. Er macht Kinder vom zweiten Lebensjahr an hyperaktiv, sie können kaum schlafen, werden taub. Sie verlernen das Sprechen, Laufen, die Orientierung im Raum wieder - und sterben durchschnittlich mit 15 Jahren. Mit diesem "Fluch" wollte sich Aiach nicht abfinden.

"Ich musste mein Kind retten", sagt sie. Bald verstand sie, dass der übliche Ansatz von Eltern schwerkranker Kinder - der Zusammenschluss zum Verein - längst nicht reichen würde, um schnell die nötigen Millionen für die Forschung gegen Sanfilippo zu beschaffen. 2009 gründete sie Lysogene. Die Firma ist der Versuch, mit einer neuartigen medizinischen Methode den Defekt zu beheben. Zugleich ist sie das Versprechen an die Geldgeber, im Erfolgsfall hohe Renditen zu kassieren. Aiach macht sich so die knallharten Regeln der Pharmabranche selbst zunutze. "Ich verfolge ein kapitalistisches Modell, keinen philanthropischen Ansatz", sagte Aiach dem Magazin Capital. "Aber genau das erlaubt es uns, voranzukommen."

Eine erste klinische Studie, bei der vier Sanfilippo-Kindern - darunter Tochter Ornella - per Gehirn-OP ein gesundes Gen zugeführt wurde, brachte ermutigende Ergebnisse. Aber nicht die Rettung. Ornella, heute zwölf Jahre alt, legte zwar ihre ständige Unruhe ab. Um das Kind zu heilen, kam der Eingriff dennoch zu spät.

Aiach hätte aufgeben können. Stattdessen treibt sie Lysogene weiter voran. Eltern anderer Sanfilippo-Patienten haben ihr vorgeworfen, sich am Unglück der Tochter bereichern zu wollen. Das verletze sie, sagt Aiach. Ihre Firma mit derzeit 13 Mitarbeitern sei eher "eine Art, Ornellas Krankheit einen Sinn zu geben". Zumal die europäische und die US-Arzneimittelbehörde der Gentherapie eine Wirkungswahrscheinlichkeit zuerkannt haben. Auch Risikokapitalgeber haben Vertrauen: Sie haben schon mehr als 20 Millionen Euro in das Start-up gesteckt. Der Börsengang soll jetzt noch einmal bis zu 39 Millionen Euro erlösen. Fast die Hälfte davon wird von Altaktionären gezeichnet.

Noch ist nichts gewonnen. Die anstehende Kapitalerhöhung soll eine zweite Studie an 20 Sanfilippo-Patienten und die Erforschung eines weiteren seltenen Gendefekts finanzieren. Nur wenn diese Ergebnisse medizinisch überzeugen, wird Lysogene kommerziell zum Erfolg. Nur dann wird Aiachs Firma ab 2020 eine Heilung von Sanfilippo für Preise in sechsstelliger Höhe anbieten dürfen.

Was ist, wenn sie scheitert? Mit dem Börsengang? Oder dann mit den klinischen Versuchen? "Diese Möglichkeit ziehe ich nicht in Betracht", sagt Aiach. Lysogene muss leben.

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