Nahaufnahme:Ein Turbo für Chemnitz

Detlef Müller (SPD)

Detlef Müller: "Durch die fehlende ICE-Anbindung entsteht bei vielen der Eindruck, dass Chemnitz hinterherhinkt."

(Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

Warum der sächsische Bundestagsabgeordnete Detlef Müller, Mitglied der SPD, es für einen Skandal hält, dass Chemnitz als einzige deutsche Großstadt noch immer nicht an das ICE-Netz der Deutschen Bahn angeschlossen ist.

Von Mauritius Kloft

Kann man dabei gewinnen, wenn man für eine Stadt kämpft, deren Ruf ruiniert ist? Noch dazu als Sozialdemokrat? Die SPD erreichte bei der Landtagswahl in Sachsen nicht einmal acht Prozent der Stimmen, ein Tiefpunkt. Detlef Müller aber lässt sich nicht entmutigen. Schließlich gilt: Minus mal Minus ergibt Plus. Warum soll sich das, was in der Mathematik gilt, nicht in die Politik tragen lassen? Um es konkret zu machen: Chemnitz ist die einzige Großstadt Deutschlands, die nicht mit dem ICE-Netz verbunden ist. Ein Skandal, findet Müller. Das will er ändern.

Müller sitzt im Bundestag - und er kommt aus Chemnitz. Er ist 55 Jahre alt und hat das hinter sich, was man eine gebrochene Ostbiografie nennt: vom gelernten Lokomotivführer zum Politiker. Anders als für viele Westdeutsche ist es für ihn noch selbstverständlich, über sein Einkommen zu reden. Und ungewöhnlich, so viel Geld zu verdienen. Auf seiner Homepage schlüsselt er auf: Von den knapp 10 000 Euro geht etwa ein Drittel an Steuern weg. Dazu kommen Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge von 711 Euro. Und etwa 1500 Euro für Vereinsbeiträge und Spenden - an die Arbeiterwohlfahrt zum Beispiel. Müller glaubt, dass er diese Transparenz denen, die SPD wählten und so sein Mandat möglich gemacht haben, schuldig ist. Seine "Arbeitgeber", wie er die Bürger nennt, wollen, dass Chemnitz nicht mehr abgehängt ist. Auch Müller hat eine Netzkarte für die Deutsche Bahn in der Ersten Klasse in der Tasche. Abfahren kann er sie bislang nicht.

Und das ist der Skandal: Um von Chemnitz etwa nach Bonn zu kommen, benötigt man zwischen sieben und neun Stunden mit der Bahn - und mindestens zwei, wenn nicht gar fünf Umstiege. Mit dem Auto sind es fünf Stunden. Die Deutsche Bahn will Chemnitz bis 2032 ans Fernverkehrsnetz anschließen. Das geht Müller zu langsam. Er fordert also im Verkehrsausschuss des Bundestages den raschen Anschluss von Chemnitz ans ICE-Netz. Bis 2012 ist man wenigstens mit dem privaten Vogtland-Express nach Berlin gekommen. "Durch die fehlende ICE-Anbindung entsteht bei vielen der Eindruck, dass Chemnitz hinterherhinkt", so Müller. Dabei könne man doch stolz sein auf die Stadt, die einst den Namen von Karl Marx trug. An den Philosophen erinnert heute noch die riesige Plastik im Stadtzentrum. Mit Sockel ist sie mehr als 13 Meter hoch.

Chemnitz ist ein wichtiger Standort der Automobilzulieferer, für Maschinenbau und Mikrosystemtechnik. VW produziert hier mit knapp 2000 Beschäftigten. Geforscht wird auch, nicht nur an der Technischen Universität, auch in Fraunhofer-Instituten. Im Technologiepark "Smart Systems Campus" werden Start-ups gegründet. Die Stadt ist stolz auf ihre Kunstsammlungen, darunter Werke von Caspar David Friedrich, Otto Dix und Albrecht Dürer.

Das Stadtbild jedoch, gibt Müller zu, wirke durch die Plattenbauten und leer stehenden Häuser nicht einladend. Noch mehr aber schrecke Investoren, Ärzte und andere Fachkräfte der Ruf der 250 000-Einwohner-Stadt ab. Die Messerstecherei im August 2018, bei der der Deutsche Daniel H. zu Tode kam, löste eine Welle gewalttätiger Ausschreitungen vor allem von Rechtsextremisten aus, die Chemnitz internationale Bekanntheit verschaffte. "Der August 2018 hat Chemnitz um zehn Jahre zurückgeworfen", sagt der SPD-Mann. Und fügt sarkastisch hinzu: 100 Millionen Euro hätte es gekostet, wenn Chemnitz aus eigener Kraft diesen Bekanntheitsgrad erreichen hätte wollen. Das hat er sich vom Stadtmarketing vorrechnen lassen.

Wegziehen kommt für Müller nicht infrage. Er ist in Chemnitz aufgewachsen, seine Kinder gehen hier zur Schule. Es ist eben Heimat.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: