Süddeutsche Zeitung

Nahaufnahme:Ein Krisendeuter

Von Schulden bis Populismus: Der Ökonom und Direktor des Forschungsinstituts Bruegel, Guntram Wolff, mischt sich gern ein. Rücksicht muss er kaum nehmen, er ist unabhängig.

Von Alexander Hagelüken

Als die Briten für den Brexit votierten, tauchte die Brüsseler Denkfabrik Bruegel in einer Woche so oft in den Medien auf wie sonst in Monaten. "Wir sind sehr gefragt, wenn in Europa wieder mal was schiefgeht", sagt Bruegel-Direktor Guntram Wolff lächelnd. "Das ist ein bisschen frustrierend, weil man gern an den positiven Entwicklungen arbeiten würde". Aber natürlich ist Wolff zufrieden, gefragt zu sein, und sei es als Krisendeuter. Seit 2013 trug er bei jedem informellen Treffen der EU-Finanzminister vor. Bruegel hat sich unter die Denkfabriken geschoben, die weltweit am meisten zitiert werden.

Wolff widerspricht der Vorstellung, der Chef einer solchen Institution müsse einen grauen Bart haben. Der Ökonom ist erst 41. Und er ist einer, der sich einmischt. Bei der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft plädiert er energisch für einen weichen Brexit, obwohl ihm das auf dem Kongress scharfe Kritik von Manfred Weber einträgt, Vorsitzender der größten Fraktion im EU-Parlament. "Kommissionschef Juncker lehnt unseren Vorschlag auch ab", sagt Wolff grinsend. Und erklärt sofort, warum er den Briten weniger EU-Zuwanderer erlauben und trotzdem im Binnenmarkt lassen will: um die wirtschaftlichen Schäden für alle zu begrenzen und ein Modell für Kooperationen mit Staaten außerhalb der EU zu entwickeln.

Wolff muss keine Rücksichten nehmen, weil er sehr unabhängig ist. Die 2004 auf deutsch-französische Initiative gestartete Denkfabrik mit mehr als 20 Forschern finanzieren europäische Staaten und große Firmen, wobei jeder nur einen kleinen Anteil zahlt. Deshalb konnte Bruegel mehr Wettbewerb in einer Branche fordern, auch wenn das einem Konzern nicht passte, der zu den Financiers gehörte - und prompt seine Zahlungen einstellte. Die mit dem Signum der Unabhängigkeit versehenen Ideen schaffen es regelmäßig auf EU-Gipfel. Jüngst etwa beschlossen die Regierungschefs, in jedem Land einen Rat einzurichten, der überwacht, ob die Volkswirtschaft wettbewerbsfähig bleibt.

In Peking erlebte Wolff gerade, wie viel Ungeduld es mit Europa gibt: "Die Asiaten wollen mehr Ruhe und Stabilität bei uns". Wohin geht es mit der EU? Wolff sorgen die Risiken in Italien, wo Regierungschef Renzi vor einem schwierigen Referendum steht, und in Frankreich, wo Marine Le Pen Präsidentin werden will. "Das sollten wir sehr ernst nehmen". Seine Antwort? Mehr Wachstum. "Die Regierungen sollten lieber zu viel tun als zu wenig."

Besonders von seinem Heimatland fordert Wolff mehr Investitionen. "Wenn die deutschen Firmen mehr in Deutschland investieren, ermöglicht das den Arbeitnehmern höhere Löhne". Der Staat soll mehr für Digitales, Schulen und Straßen ausgeben. Wolff ärgert sich jedes Mal über den Zustand der Rheinbrücken, wenn er seine Eltern in Bochum besuchen fährt. Und er fragt: "Warum platzieren wir keine deutsche Uni weltweit unter die Top Ten?"

Er zieht ein deutsches Defizit von einem Prozent der schwarzen Null vor, weil das dem Rest der Euro-Zone helfen würde. Und weiß: "Ich befinde mich damit außerhalb des deutschen, aber voll im internationalen Mainstream." Als er damals für die Bundesbank forschte, forderte er in der Schuldenbremse eine goldene Regel, wonach Investitionen mit Defiziten finanziert werden dürfen. Bei der Bundesbank lief Wolff damit auf. Seit er nach einem Aufenthalt bei der EU-Kommission für Bruegel arbeitet, kann er seine Ideen öffentlich mit Nachdruck vertreten. Damit es in Europa wieder aufwärts geht. Damit er bei Dinnerveranstaltungen eine positivere Stimmung erlebt. "Der Defätismus derzeit zehrt schon an mir. Und er ist übertrieben: Europas Wirtschaft wächst ja wieder."

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Quelle:
SZ vom 12.10.2016
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